Am Anfang war der Tanz, und dann kam die Musik, zuletzt das Wort - als unbedeutende Nebenerscheinung. Der neue Film von Carlos Saura „Iberia“ entführt den Zuschauer einmal rund um die Iberische Halbinsel, zu den Wiegen des Tanzes und den Klängen der tiefgründigen spanischen Seele. Mehr als hundert der renommiertesten spanischen Tänzer, Musiker und Sänger präsentieren in „Iberia“ ihr ganzes Können und ihre faszinierende Leidenschaft für Ballett, Flamenco, traditionellem Gesang und Musik, dass nicht nur das spanische Herz blutet. Zugleich ist der Film eine Reise in die jahrtausend alte spanische Geschichte der Musik und des Tanzes, der Traditionen und Sitten und in das Geheimnis der sagenträchtigen, mystischen Seele des Landes. Nach dem als bester fremdsprachiger Film oscarnominierten „Carmen“ aus dem Jahre 1985 beweist Saura einmal mehr seine Feinfühligkeit und Empathie für das spanische Lebens- und Leidensgefühl, für die Kunst einer ursprünglicheren Kommunikationsform als der Sprache – so scheint es zumindest.
Mit samtenen Händen und unmerklicher Anziehungskraft wird der Zuschauer sofort von „Iberia“ in den Bann gezogen und bis zum Ende nicht mehr losgelassen. An verschiedenen Orten, mit verschiedenen Künstlern, unterschiedlichen Kulissen und Instrumenten wird so gut wie alles dargeboten, was Spanien an Tanz, Musik und Gesang zu bieten hat. Die Darstellungen der rassigen Künstler sind in jeder Sekunde ergreifend, die Überleitungen immer gut gelungen. „Iberia“ ist kein Film, sondern ein wunderschönes Gemälde, mit farbenprächtiger Sinnlichkeit gemalt. Und vor allem und das ist das Wichtigste: Er stiftet an zum Mitmachen, zum Hingeben und Loslassen. Die Künstler bieten allesamt Perfektion und immense Ausdruckskraft, um den Zuschauer auf eine ganz besondere Art zu verzaubern. Selten ist „Iberia“ langweilig oder erschöpfend. Denn der Detailreichtum und die inspirative Verschiedenartigkeit der Szenerien machen aus jedem Akt ein einzigartiges Schauspiel.
Eine ganz besondere Leistung wird dem Regisseur zuteil, dem es gelingt, alle Komponenten, ob Tanz, Musik oder Schauspielerei, in eine ergreifende Symphonie zu verwandeln. Die Kameraführungen und Momentaufnahmen sind von starker Intensität und ein „Mitfühlen“ und „Mitdenken“ seitens des Filmemachers ist merklich spürbar. Selbstverständlich wäre dieses Gelingen ohne die Darstellungskunst der schauspielernden Tänzer beziehungsweise der tanzenden Schauspieler nie möglich, aber zum wirklichen Erfolg des Filmes trägt Carlos Saura überdeutlich bei. Mimik und Gestik, aber auch die Bewegung und musikalische Untermalung werden so brillant und vor allem gezielt eingefangen, dass der dargestellte Tanz nicht nur ein Tanz bleibt, sondern zu einer zusammenhängenden und sinnvollen Geschichte mit Anfang und schmerzlichem Ende wird – und das wohlgemerkt in jeweils etwa fünf Minuten.
Sicherlich gehört zum „Verstehen“ des Filmes, oder besser des Musicals, eine gewisse Neigung zur traditionellen Musik und den Tänzen spanischer Herkunft. Erfreulich jedoch hierbei ist, dass selbst der Laie problemlos Zugang finden kann, wenn er nur will. Denn der Film ist in seinen stilistischen Elementen herausragend und die dargestellte Kunst famos, die Bilder sind inspirierend und die Musik einfach einzigartig. Der Film bietet für jeden etwas und transportiert mitunter sämtliche menschliche Stimmungen und Gefühlslagen, traurige und nachdenkliche Stücke, aber auch erheiternde und lebensfrohe Zwischenspiele. Ferner zeigt der Film Schönheit und Hässlichkeit, ist Sonnenaufgang, Dämmerung und nächtliche Leere zugleich. Ein schillerndes Spektakel, das man sich nicht entgehen lassen sollte, sofern man einen gewissen Hang zur Kunst und den Willen hat, seinen Horizont zu erweitern. Denn eines bietet „Iberia“ auf keinen Fall: Eine „Handlung“ im konventionellen Sinne und am allerwenigsten unmittelbare Zugänglichkeit. Dafür aber Armut und Minimalismus an herkömmlichen Requisiten und Kulissen, zugleich aber auch enormen interpretatorischen Reichtum.