Seit „Citizen Kane“ muss zu einem Film nur der Name Orson Welles erwähnt werden und schon erwartet das Publikum ein Meisterwerk. Ein solches ist „Die Spur des Fremden“ nicht. Trotzdem kann der Film auch einer mit dem Namen des Herrn Welles verbundenen hohen Erwartungshaltung standhalten, da es sich im vorliegenden Fall um einen gekonnt inszenierten, spannenden Thriller handelt, der auch ein bisschen an die Werke eines gewissen Alfred Hitchcock erinnert.
Detektiv Wilson (Edward G. Robinson) taucht in der Kleinstadt Harper, Connecticut, auf. Er ist einem flüchtigen Nazi-Kriegsverbrecher namens Konrad Meinike (Konstantin Shayne) auf der Spur. Der Ermittler hofft, dass dieser ihn direkt zum meistgesuchten Nazi Franz Kindler führt. In Harper angekommen, wird Meinike jedoch getötet. Aber Wilson ist nicht dumm und kommt bald dahinter, dass der städtische Lehrer Charles Rankin (Orson Welles) der gesuchte Kindler ist. Nun versucht er, ihn zu überführen und bringt dabei Kindlers kürzlich angetraute Ehefrau Mary Longstreet (Loretta Young), Tochter des örtlichen Richters, in Gefahr.
Es wäre mehr Tiefgang und Anspruch bei der Thematik drin gewesen, trotzdem ist „Die Spur des Fremden“ ein gelungener Kriminalfilm. Zwar weiß der krimierprobte Zuschauer schon von Anfang an, wie die Geschichte ungefähr ausgehen wird, nichtsdestotrotz bleibt der Thriller dank seiner inszenatorischen und erzählerischen Stärke bis zum Schluss spannend. Die Story wirkt in sich schlüssig, wobei aber im Detail gewisse Geschehnisse und Aktionen auf ihre Nachvollziehbarkeit hin in Frage gestellt werden können. Beispielsweise die Flucht von Konrad Meinike aus dem Gefängnis. Ihm wurde die Zellentür geöffnet, damit er Detektiv Wilson direkt zum gesuchten Kindler führt. Meinike sieht dies zwar als Zeichen Gottes an und seine Handlungsweisen werden im Film erklärt, die tatsächliche Glaubwürdigkeit kann aber trotzdem hinterfragt werden. So verhält es sich bei ein paar Kleinigkeiten im Film, allerdings brauchen diese Umstände nicht weiter negativ aufzustoßen, da dem Betrachter bestes, stets unterhaltsames Genrekino geboten wird.
Wieder einmal gibt sich Orson Welles in der Rolle einer zwielichtigen Figur die Ehre. Er scheint große Freude daran zu haben, den vermeintlichen Bad Guy des Films zu spielen und seine Figur dabei doch menschlich und dadurch irgendwie sympathisch anzulegen. Dieses Mal verhält sich der Sachverhalt aber ziemlich eindeutig. Auch wenn Welles es zuweilen schafft, seiner Figur soviel Profil zu verleihen, dass sich der Betrachter zu fragen beginnt, ob er nun nicht doch tatsächlich seine Frau liebt, ist im Endeffekt klar, dass er ohne Abstriche den großen Bösewicht des Films darstellt. Da fehlt „Die Spur des Fremden“ dann doch etwas von der Mehrdeutigkeit seiner anderen Werke „Citizen Kane“ oder „Im Zeichen des Bösen“. Desgleichen ist Hitchcocks ähnliches Werk Berüchtigt dieser Variante des flüchtigen Naziverbrecher-Themas ein wenig voraus, war doch in jenem Film die Figur des zu suchenden Nazis tatsächlich nicht eindeutig böse angelegt und der Zuschauer so gezwungen, den Film mit höchst zwiespältigen Gefühlen zu schauen.
Auch sonst drängt sich der Vergleich mit Berüchtigt und Alfred Hitchcock im Allgemeinen auf. Inszenatorisch lehnt sich Welles deutlich am damals angesagten Stil des Film Noir an. In Sachen Spannungsaufbau erinnert „Die Spur des Fremden“ an die Werke des Herrn Hitchcock. Der Zuschauer weiß immer mehr als der Held, woraus auch der Großteil der Spannung resultiert. Im direkten Vergleich mag Berüchtigt vielleicht gewinnen, dagegen erscheint „Die Spur des Fremden“ insgesamt stringenter und straffer. Es lässt sich jedenfalls nicht viel an der gekonnten Regie-, Kamera- und Schnittführung aussetzen und auch erzählerisch macht Orson Welles nahezu alles richtig.
Der Sympathieträger des Films, an dem sich der Betrachter auch halten kann, ist Edward G. Robinson. In Berüchtigt war es noch ganz geschickt, dass der aalglatte, vermeintliche Held Cary Grant nicht immer die Sympathiepunkte für sich verbuchen konnte. In „Die Spur des Fremden“ sind die Sympathien aber klar verteilt. Der Zuschauer kann jedoch dankbar und darüber erfreut sein, dass Robinson endlich mal eine nette Rolle zukommt. Der kleine Mann ist dieses Mal nicht der fiese Gangster, sondern ein aufrechter, gewitzter Detektiv. Ironischerweise hält ihn aber der flüchtige Naziverbrecher Meineke für den Teufel persönlich. Das wirkt wie ein augenzwinkernder Insiderscherz im Hinblick auf Robinsons sonstige Rollen. Ist Robinson der große Sympathieträger des Films und Welles der große Bad Guy, so ist die theatralisch aufspielende Loretta Young als Kindlers Frau die große Leidtragende. Als Opfer sämtlicher im Film auftretenden, unangenehmen Umstände wird sie am ehesten und meisten das Mitleid des Betrachters ernten.
Die Kriegsverbrechen werden nur am Rande erwähnt, was aber nicht weiter verwundern muss, entstand der Film doch kurz nach dem Krieg, wo allen Beteiligten die Nazi-Gräueltaten noch frisch im Gedächtnis waren. Mittlerweile mag dem Film deswegen ein bisschen was von der Brisanz und Aktualität oder Tiefe seiner Zeit fehlen, da der moderne Zuschauer nun genug Distanz zu jenen schrecklichen Geschehnissen aufweisen kann, um in „Die Spur des Fremden“ lediglich einen spannenden Kriminal-Thriller zu sehen. Damit täte der Betrachter dem Film gar nicht mal so unrecht, denn in erster Linie ist das Werk in der Tat „nur“ ein spannender Thriller, der sein anspruchsvolles Potenzial für eine straff inszenierte und schnörkellose Kriminalgeschichte opfert.