Für Matthew, den Träumer und den Filmfanatiker, ist die Sache klar: Im Kino sitzen die wahren Enthusiasten ganz vorne. Sie wollen die ersten sein, bei denen die Bilder von der Leinwand ankommen, nichts soll sich zwischen sie und das wunderbare Licht schieben. Was Hollywood-Strategen unter dem Etikett von der „Magie des Kinos“, die als Überwältigungsdramaturgie daherkommt, zuweilen arg banalisieren, wird hier auf ebenso unmittelbare wie berührende Weise ins rechte Bild gerückt – das Filmtheater als Palast der Träume, als privilegierter Ort, an dem auf geradezu unanständige Art alles möglich ist. Dorthin führt uns Bernardo Bertolucci mit seinem Erotik-Drama „Die Träumer“ – an einen Kristallisationspunkt aller großen Hoffnungen und Utopien: Sex, Kino und Politik im Pariser Frühling des Jahres 1968. Mit süßem Ernst und feierlicher Leichtigkeit beschwört der Regisseur in seiner Ménage à trois die Stimmung einer Epoche und zugleich die Gegenwärtigkeit dieser Vergangenheit, die auch seine eigene ist. Für die professionellen Traumdeuter gibt es jede Menge ödipaler Verstrickungen, Übertragungen und symbolische Untiefen – aber viel schöner ist es, den Traum mitzuträumen.
Der junge Amerikaner Matthew (Michael Pitt, Last Days, The Village, Funny Games U.S.) kommt aus San Diego nach Paris. Bei einer Demonstration für Henri Langlois, den eben entlassenen Leiter der Cinémathèque Française, lernt er die Zwillinge Isabelle (Eva Green, Casino Royale, Der Goldene Kompass) und Theo (Louis Garrel, Chanson der Liebe, Actrices) kennen. Schnell entwickelt sich eine enge Freundschaft zwischen den drei leidenschaftlichen Kinoliebhabern. Die Geschwister quartieren Matthew bei sich ein, während die Eltern (Robin Renucci, Geheime Staatsaffären, Arsène Lupin) und (Anna Chancellor, Vier Hochzeiten und ein Todesfall, Per Anhalter durch die Galaxis) auf Reisen sind. Die drei jungen Leute genügen sich zunehmend selbst, bald verlassen sie das großzüge Appartement gar nicht mehr. Bei Wein, Sex und lebhaften Diskussionen gehen sie der Welt immer mehr verloren – ehe diese wortwörtlich den Kokon des Trios aufbricht.
1968 – die Jahreszahl ist längst zu einem Schlagwort geworden, manchmal fast zum Schimpfwort. Für Bertolucci und seinen Drehbuchautoren Gilbert Adair, der seinen eigenen Roman „The Holy Innocents“ adaptierte, ist 68 zunächst einmal eine Zeit der Unschuld, von der sie mit durchaus autobiographischen Zügen erzählen. So wirken die Auseinandersetzungen mit den Eltern, die in die Sprachlosigkeit münden, ebenso glaubhaft wie unvermeidlich. Vater und Mutter können das Leben der Kinder bald nur noch mit einer Mischung aus Resignation und Zärtlichkeit betrachten – und wortlos einen Scheck hinterlassen. Fernab jeder historisierender Zusammenschau lassen die Filmemacher ihre Träumer die unbewusste Rücksichtslosigkeit der Jugend ausleben und Grenzen ausloten. Anders als in seinen meisterlichen historischen Epen „1900“ und Der letzte Kaiser, die wahre Gesellschaftsromane sind, greift der lange Arm der Geschichte hier erst ganz am Ende nach den Protagonisten – und Bertolucci inszeniert dies ganz deutlich als Weckruf. Mit dem Erwachen ist allerdings auch der Traum beendet, die Unschuld verloren und das Dreieck gesprengt.
1972 hatte Bertolucci mit Der letzte Tango in Paris einen berühmten Skandal verursacht – damals sorgten vor allem die freizügigen Sex-Szenen von Marlon Brando und Maria Schneider für Empörung, Zensur und Strafmaßnahmen. Losgelöst von dieser etwas albernen und oberflächlichen Aufregung ist der Film aber vor allem durch seinen klarsichtigen Blick auf die Zusammenhänge zwischen Sex und Macht, auf die Beziehungen zwischen den Geschlechtern und auf die komplizierten Gefühlswelten in der von zunehmender Isolation bestimmten modernen Gesellschaft gekennzeichnet. „Die Träumer“ liefern uns nun eine Art Vorstudie zum „Tango“: Die Entdeckung der Sexualität vor dem Verlust der Illusionen, da sind auch inzestuöse Untertöne kein Tabu. Hier gibt es zwar bereits Machtspielchen (etwa wenn Theo von der Schwester gedrängt wird, vor den Augen der anderen zu masturbieren) und Eifersucht, aber über weite Strecken herrscht eine fast paradiesische Ungezwungenheit vor. Für die drei jungen Darsteller (für Eva Green war es sogar die allererste Filmrolle) scheinen Nacktheit und Sex tatsächlich das Natürlichste der Welt zu sein und Bertoluccis Inszenierung ist nicht einen Moment indiskret.
Bertolucci ist ein Meister der einfühlsamen Beobachtung. Bei ihm kann sich auch eine komplizierte Liebesgeschichte wie „Shandurai und der Klavierspieler“ ohne große Worte und visuelle Mätzchen aufs Ergreifendste entfalten. Die größte Liebe in „Die Träumer“ ist die zum Kino, und so schenkt uns Bertolucci die warmen Töne des geräumigen Appartements, das mit seinen „geheimen“ Zimmern und Spiegeln fast selbst eine Art Traumlandschaft ist. Von da ist es nur ein kleiner Schritt in die Filmgeschichte. Da steigt Michael Pitt aus dem Bett wie einst James Dean aus dem Auto, Filmfotos hängen in der ganzen Wohnung und die Freiheit in Delacroix' berühmtem Revolutionsgemälde hat nun das Gesicht von Marilyn Monroe.
Das Kino wird hier so ernst genommen wie es fast nur die Franzosen können, die es längst als siebte Kunst ansehen. Bertolucci erweist nicht nur dem legendären Henri Langlois seine Referenz, dem Truffaut schon seinen Geraubte Küsse gewidmet hatte. Auch dessen Alter Ego, Jean-Pierre Léaud alias Antoine Doinel, ist bei Bertolucci kurz zu sehen und verliest wie 1968 ein Pamphlet. Von dieser cinephilen Atmosphäre sind auch die Protagonisten angesteckt. Leidenschaftlich diskutieren sie die Frage, wer denn nun besser sei: Chaplin oder Keaton? Die Fronten sind klar verteilt und der Amerikaner muss sich auch noch sein Unverständnis für das Genie von Jerry Lewis vorwerfen lassen. Wenn Eva Green das Mobiliar ertastet wie Greta Garbo in „Königin Christina“, dann wechselt Bertolucci fast unmerklich zum Originalfilm. Auf ähnliche Weise sind auch Ausschnitte aus Außer Atem und aus Bressons „Mouchette“ (hier verleitet das filmische Vorbild Isabelle zu einer fatalen Entscheidung) integriert, es ist Musik aus Sie küssten und sie schlugen ihn zu hören und in der schönsten Reminiszenz brechen die drei Filmverrückten den Rekord von Godards „Außenseiterbande“ beim Spurt durch den Louvre.
Bertoluccis Meisterwerk ist auf entwaffnende Weise selber unschuldig – der Regisseur setzt das „im Kino ist alles möglich“ unbekümmert und unaufdringlich in die Tat um. Seine Liebeserklärung an das Medium ist zugleich eine an das Leben selbst – und an das Geheimnis, das beides so ununterscheidbar macht: „Die Träumer“ sind wir.