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    Wer war Harvey Milk?
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Wer war Harvey Milk?
    Von Sascha Westphal

    Wie man es auch dreht und wendet – ein Vierteljahrhundert ist eine lange Zeit. Natürlich gibt es unzählige Filme, an denen noch weitaus mehr Jahre vorbeigegangen sind, ohne große Spuren zu hinterlassen. Aber andere altern längst nicht so gut. Gerade die Produktionen, die bei ihrer Entstehung ganz auf der Höhe der Zeit waren, wirken oft schon wenige Jahre später ziemlich angestaubt. Aber vielleicht ist das genau der Preis für den Anspruch, nicht nur Künstler, sondern auch Chronist gesellschaftlicher Ereignisse sein zu wollen, wie ihn der amerikanische Dokumentarfilmer Rob Epstein an sich stellt. Im Produktionsjahr 1984 hatte Epsteins Dokumentation „The Times of Harvey Milk“ sicherlich etwas von einem Meilenstein und war somit mehr als nur ein verdienter Oscar-Gewinner. Schließlich stand das Queer Cinema damals noch ganz am Anfang. Doch seither hat sich zumindest in der amerikanischen Film- und Fernsehszene einiges geändert und davon zeugt nicht nur Gus Van Sants Biopic Milk. In den Zeiten von Fernsehserien wie „queer as folk“ und serie,22, die ihrer typischen Seifenopernstrukturen zum Trotz gerade in politischer Hinsicht sehr deutlich Stellung beziehen, sieht man Epsteins Annäherung an Harvey Milks polititische Karriere, die unsinnige Ermordung des Aktivisten und ihre Folgen für dessen Heimatstadt San Francisco mit ganz anderen Augen als vor 25 Jahren. Mittlerweile ist Epsteins Film selbst zu einem historischen Dokument geworden, das uns letzten Endes mehr über die Zeit seiner Entstehung als über seinen Gegenstand erzählt.

    Am Abend des 27. November 1978 verkündet Dianne Feinstein, die Vorsitzende des Stadtrats von San Francisco, der auf der Treppe zum Rathaus versammelten Presse, dass einige Stunden zuvor ein Mann Bürgermeister George Moscone und Stadtrat Harvey Milk erschossen hat. Die Reaktionen der Journalisten sprechen Bände. Ihr Entsetzen und ihre Fassungslosigkeit stehen stellvertretend für die Bestürzung, die diese amerikanische Tragödie in den Reihen der Schwulenbewegung und ihrer Sympathisanten ausgelöst hat. Mit den Original-Nachrichtenbildern dieser Pressekonferenz beginnt Epstein seine Dokumentation. Die Ermordung Harvey Milks durch den kurz zuvor zurückgetretenen Stadtrat Dan White ist der Dreh- und Angelpunkt des Films. Die fünf Schüsse, denen der charismatische Politiker und Aktivist zum Opfer gefallen ist, werfen einen Schatten auf alles, was vorher passiert ist, und haben das Selbstverständnis der „Lesbian & Gay Rights“-Bewegung lange über den Prozess gegen den Attentäter hinaus geprägt. Und so verweisen alle Gespräche, die Epstein mit Freunden, Bekannten und Weggefährten Milks geführt hat, zumindest implizit auf den Mord.

    Jede Form von offener politischer Provokation oder gar aufrührerischer Propaganda liegt Rob Epstein offensichtlich fern. Sein (filmischer) Aktivismus zielt auf einen langsamen, evolutionären Wandel der Gesellschaft. Um den Boden für Veränderungen zu bereiten, gilt es die Menschen vor allem erst einmal zu informieren und aufzuklären, damit sie dann von ihren Vorurteilen ablassen und offener für das Andere, das Fremde, werden. Insofern hat „The Times of Harvey Milk“ etwas von einer langen, akribisch recherchierten Nachrichtenreportage, die vor allem auf die Aussagen von Zeitzeugen setzt. In dieser zuerst einmal um Sachlichkeit bemühten Vorgehensweise liegt ohne Frage eine große Stärke dieser Dokumentation. Wenn Milks Wahlkampfmanagerin Anne Kronenberg, seine politische Beraterin Tory Hartmann, die Journalistin Jeannine Yeomans, die Professorin und Aktivistin Sally M. Gearhart, der Lehrer Tom Ammiano und der Gewerkschaftler Jim Elliot über Harvey Milks Charisma und sein unermüdliches Engagement sprechen, geben ihre Anekdoten und Beschreibungen dem Bild, das von dem von Epstein zusammengetragenen Archivmaterial heraufbeschworen wird, klarere Konturen. So entsteht ein umfassendes, aber eben sehr persönlich eingefärbtes Porträt des ersten ganz offen homosexuellen Politikers, der in Kalifornien in ein Amt gewählt wurde.

    Aber Rob Epstein zahlt für sein Bemühen um Sachlichkeit und Information auch einen Preis. Dass er Harvey Milks private Biographie fast ganz ausblendet und sich auch nicht lange mit Spekulationen über dessen innere Konflikte und Motive aufhält, versteht sich für ihn von selbst. Das ist Epstein und seinem Film durchaus hoch anzurechnen. Schließlich schafft er so ein von Fakten geprägtes Panorama, in dessen Zentrum die politischen und gesellschaftlichen Prozesse stehen, die 1977 dazu führten, dass Milk in den Stadtrat von San Francisco gewählt wurde – nachdem er zuvor schon bei drei anderen Wahlen gescheitert war. Aber zugleich bleibt einem die Person Harvey Milk merkwürdig fremd. Seine Fähigkeit, Menschen zu erreichen, sein Mut und seine Bereitschaft, alles für seine Überzeugungen zu tun – all das ist unbestritten. Doch der Mensch jenseits der öffentlichen Persona bleibt beinahe so etwas wie eine Leerstelle.

    Selbst im Moment von Harvey Milks größtem politischen Triumph, als im Sommer 1978 die sogenannte „Briggs Initiative“, die eine Entlassung aller homosexueller Lehrer aus dem kalifornischen Schuldienst vorsah, in einem Bürgerreferendum abgelehnt wurde, provoziert Epsteins Montage kaum Emotionen. Die gleiche Nüchternheit, mit der er zuvor Präsident Carters zögerliche Haltung im Umgang mit Homosexuellen konstatiert hat, prägt auch die Bilder von und die Kommentare zu Milks so überraschendem wie überwältigendem Sieg. Der Schatten des Todes liegt von Anfang an über dessen Leben und Wirken. Fast könnte der Eindruck entstehen, dass alles vergeblich war. Derart fatalistisch ist „The Times of Harvey Milk“ sicher nicht gemeint. Dafür liegen Epstein die Zeit und die Person des Stadtrats zu sehr am Herzen. Doch die Distanz, die er als Filmemacher so lange wahrt, schafft letztlich auch eine kaum noch zu überbrückende Distanz zwischen der Dokumentation und ihrem Publikum. Das ändert sich erst im letzten Drittel des Films.

    Epstein beendet seine Chronik der politischen Karriere Milks genauso wie er sie eingeleitet hat: mit Archivaufnahmen von Dianne Feinstein, die der Presse den Tod des Stadtrats verkündet. Der Kreis schließt sich, und in diesem Moment wirkt Feinsteins Professionalität – der Doppelmord im Rathaus scheint keinen größeren Eindruck auf sie gemacht zu haben – noch irritierender, noch abgründiger als zu Beginn der Dokumentation. Nun geht Epsteins Konzept erstmals gänzlich auf. Die bis dahin unterdrückten oder zumindest zurückgedrängten Emotionen brechen sich mit Milks Tod Bahn. Und so geht von den Ereignissen nach seiner Ermordung letztlich eine nachhaltigere Wirkung auf den Betrachter aus als von den Geschehnissen vor der Bluttat.

    Noch in der Nacht der Morde haben sich spontan Tausende in der Castro Street zusammengefunden und sind von dort friedlich zum Rathaus marschiert. In den Aufnahmen dieses von Tausenden von Kerzen illuminierten Trauermarsches offenbart sich erst das ganze Wirken Milks. Doch das Versprechen dieser erhabenen Momente wurde nicht eingelöst. Schon wenige Monate später kam es, nach der Urteilsverkündung im Prozess gegen den geständigen Dan White, der gerade einmal zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde, zu den „White Night Riots“. Die Wut und die Enttäuschung angesichts eines Systems, das einen zweifachen Mörder praktisch davonkommen lässt, gipfelten in gewalttätigen Krawallen. Die Bilder von Schlagstock-schwingenden Polizisten sprechen dabei eine deutliche Sprache: Milk hat die Menschen zwar berührt, aber den konservativen, von Angst und Hass auf alles, was anders ist, beherrschten Kern der Gesellschaft hat auch er kaum erreicht. Erst die Ausschreitungen, die Straßenkämpfe zwischen Homosexuellen und der Polizei, haben San Francisco von Grund auf verändert.

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