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    Das Reich der Sonne
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Das Reich der Sonne
    Von Björn Helbig

    „Das Reich der Sonne“ hat unter den Werken von Steven Spielberg nie eine herausragende Stellung eingenommen. Als Melodram steht der Film im Schatten von „Die Farbe Lila“, in der Darstellung der Brutalität des Krieges kann er Der Soldat James Ryan nicht das Wasser reichen. Was die politische Relevanz betrifft, hat er nicht das Kaliber von München oder Schindlers Liste und als reiner Unterhaltungsfilm kann er nicht mit Filmen wie Duell, Der weiße Hai, Jurassic Park oder der „Indiana Jones“-Tetralogie konkurrieren. Auch die Familienfreundlichkeit von E.T. - Der Außerirdische fehlt ihm weitgehend. Doch selbst wenn sich „Das Reich der Sonne“ nicht leicht einordnen lässt, ist Spielberg mit seiner Romanverfilmung ein inhaltlich wie optisch meisterhafter Film gelungen, der zu Unrecht ein Schattendasein in der Filmografie des Regisseurs fristet.

    Als die Japaner 1941 während des Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieges Shanghai besetzen, muss der elfjährige Jim (Christian Bale) mit seinen Eltern Mary (Emily Richard) und John Graham (Rupert Frazer) fliehen. Nachdem die englische Familie sich im Flüchtlingsstrom aus den Augen verliert, ist Jim gezwungen, sich alleine durchschlagen. Dabei gerät der Junge an den Amerikaner Basie (John Malkovich) und dessen Kumpel Frank (Joe Pantoliano). Zunächst planen die beiden Männer, Jim zu verkaufen, doch dann entscheidet sich Basie anders. Schließlich werden die drei von den Japanern gefasst und in ein Gefangenenlager gesteckt. Dort geht es ums Überleben. Doch Jim ist clever und passt sich den Umständen sehr gut an.

    „Das Reich der Sonne“ beruht auf dem gleichnamigen, semi-autobiografischen Roman von James Graham Ballard („Der Sturm aus dem Nichts“, „Der Block“, „Hallo Amerika!“). Der Autor wurde 1930 in Shanghai geboren und wuchs dort in einer amerikanisch geprägten Siedlung auf. Nach der Besatzung durch die Japaner wurden Ballard und seine Eltern von 1943 bis zum Ende des Krieges in einem Internierungslager gefangen gehalten. Nach der Rückkehr nach England begann der junge Mann zunächst ein Medizinstudium, das er aber zugunsten der Schreiberei aufgab. Leben konnte er von den literarischen Gehversuchen allerdings nicht, so dass er sich eine Zeit lang mit anderen Jobs über Wasser hielt. Bekannt wurde der Querdenker Ballard, der 2009 an den Folgen eines Krebsleidens starb, durch seine düsteren und eigenwilligen Science-Fiction-Geschichten. In seinen anti-utopischen, technikkritischen Texten setzte sich der Autor oftmals mit der Degeneration der Gesellschaft auseinander. Sein bekanntester Roman „Crash“ wurde von David Cronenberg verfilmt. Dass gerade Hollywoods oberster Optimist Steven Spielberg, der auch in den düstersten Stoffen noch Hoffnung entdeckt, sich entschlossen hat, mit dem 1984 erschienenen „Das Reich der Sonne“ eine Vorlage des Zukunftspessimisten Ballard zu verfilmen, mutet auf den ersten Blick etwas überraschend an.

    Spielberg hält eine fast magische Balance zwischen persönlicher Aneignung des Stoffes und Vorlagentreue, so dass er letztlich ein nahezu perfektes Ergebnis erzielt. Er wagt sich so tief wie möglich in Ballards bedrohliche Welt und haucht der fiebrigen, aber auch sperrigen Vorlage durch seine Fähigkeiten als Geschichtenerzähler mit den Mitteln der Traumfabrik neues Leben ein. In „Das Reich der Sonne“ geht es – zumindest vordergründig – um Freundschaft, Verantwortungsbewusstsein, Einfallsreichtum, Überlebenswille und die Fähigkeit sich anzupassen. Die Geschichte des kleinen Jungen, der sich in einer fremden Welt behaupten muss, ist somit ein idealer Stoff für anspruchsvolle Familienunterhaltung. Doch auch wenn Spielberg Jims kindlich naiven Blick auf die fremde Welt des Internierungslagers betont und dessen Erlebnisse an eine humanistische Botschaft der Solidarität koppelt, lässt er auch immer wieder die Abgründe der Ballard'schen Vorlage durchscheinen. Die Themenwelt des Autors gibt auch dem Film das Fundament.

    Spielberg und sein Drehbuchautor Tom Stoppard, der schon die erste Drehbuchfassung zu Terry Gilliams fabelhaftem Brazil schrieb und später für Shakespeare In Love einen Oscar erhielt, erliegen nicht der Versuchung, den Stoff mit einer Zuckerschicht zu überziehen und den Charakter des Jim zur positiven Identifikationsfigur hochzustilisieren. Lange Zeit bleibt der Protagonist ein verwöhntes Kind und auch später, in der Haft, entwickelt er sich nicht zum barmherzigen Samariter. Jim versucht sich durchzuschlagen, er handelt wie die meisten Gefangenen aus dem (hungrigen) Bauch heraus. Christian Bale (Der Maschinist, The Dark Knight) zeigt in dieser frühen Rolle bereits sehr viel von seiner Fähigkeit, auch die dunklen Seiten der menschlichen Psyche in seinen Figuren zum Ausdruck zu bringen.

    James G. Ballard war überzeugt, dass das zweckrationale Kalkül genau wie archaische, völlig vernunftfreie Emotion zum Wesen des Menschen gehört. Für das kühle Nutzen jeder Gelegenheit steht der Amerikaner Basie, der es perfekt versteht die anderen Gefangenen und allen voran den Jungen Jim für seine Zwecke zu instrumentalisieren. John Malkovich (Burn After Reading, Gefährliche Liebschaften) verkörpert diese amoralische Figur perfekt. „All meine Bücher handeln ja davon, dass unsere humane Gesittung wie die Kruste über der ausgespienen Lava eines Vulkans ist...“, sagte Ballard in einem Interview mit der „Zeit“ und wies auf die Brüchigkeit von menschlichen Moralvorstellungen hin. Dieses Grundthema seiner Arbeit findet sich auch und gerade in den autobiografischen Werken. So erreicht der Film seinen optischen und inhaltlichen Höhepunkt als Jim auf der Flucht die Errungenschaften einer Zivilisation als leuchtend glitzernden Tand wie in einer Müllkippe aufgetürmt findet. In dieser starken Szene verschmelzen die visionären Fähigkeiten des Regisseurs mit dem anti-utopischen Duktus der Romanvorlage.

    „Das Reich der Sonne“, der nach „Die Farbe Lila“ als weitere Vorarbeit zu Schindlers Liste angesehen werden kann, hatte trotz der Energieleistung der Beteiligten und 16 Wochen Drehzeit an Originalschauplätzen in Shanghai nicht den erhofften Erfolg an den Kinokassen. Und auch nicht alle Kritiker waren begeistert. Vielen enthielt die Geschichte eine Spur zu viel Kitsch, andere nahmen ihm besonders das sentimentale Ende übel. Wieder anderen fehlte eine klare Botschaft, eine Pointe. Doch die starken Gefühle sind angesichts einer solchen (Lebens-)Geschichte durchaus angebracht. Und dass Spielberg zum Schluss nicht mit einer wie auch immer gearteten Moral aufwartet, ist der einzig angemessene Weg, Ballards Roman umzusetzen. Alles andere wäre verfehlt gewesen.

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