Regisseur Francois Ozon lässt „8 Frauen“ wie eine Douglas-Sirk-Schnulze beginnen: Ein romantisch verschneites Landhaus, ein Reh nähert sich, der herrschaftliche Eingang wird gezeigt. Doch sehr schnell wechselt die Atmosphäre in ein bis zum Schluss enorm komödiantisches Familiendrama, in dem Ozon alle Register des Tragikomischen zieht. Die ganze Fassade des großbürgerlichen Scheins wird sehr schnell eingerissen – vor allem (aber nicht nur) exzellent durch Isabelle Huppert in der Rolle der alten Jungfer Augustine, mit ihrer schnippischen, bewusst verletzenden, zickigen und rücksichtlosen Art. Wenn Augustine die Treppe im Haus herunter kommt – das Zentrum des Geschehens –, sind Kampf und Enthüllung, Intrige und Verleumdung angesagt. Entscheidend jedoch ist, dass Ozon seine Figuren nicht in gut und böse einteilt, sondern durch ein ungeheures und gelungenes Maß an Humor und vor allem Sarkasmus hautnahe Sympathie ausstrahlen lässt. Die feuerspeiende, ekelhafte Augustine ist einfach – umwerfend.
Ein prächtiges Landhaus, abgelegen und verschneit irgendwo im Frankreich der 50er Jahre. Die junge Studentin Suzon (Virginie Ledoyen) ist von ihrer Mutter Gaby (Catherine Deneuve), einer sehr auf Vornehmheit und äußeres Erscheinen achtenden Frau, vom Bahnhof abgeholt worden, um mit ihr und der Familie Weihnachten zu feiern. Beide werden von Gabys Mutter, die alle Mamy (Danielle Darrieux) nennen, empfangen. Mamy ist an den Rollstuhl gefesselt. Sie ist verarmt und wurde auf Drängen Gabys von deren Mann – dem einzigen Mann im Haus – aufgenommen, samt der exzentrischen, verbiesterten Schwester Gabys, Augustine (Isabelle Huppert). Anwesend ist auch Suzons jüngere Schwester, die 16-jährige Catherine (Ludivine Sagnier), ein aufsässiger und erfahrungshungriger Teenager. Für das leibliche Wohl und sonstige Dienste zuständig sind die Haushälterin Chanel (Firmine Richard), die schon lange bei der Familie arbeitet und Suzon und Catherine großgezogen hat, sowie das Dienstmädchen Louise (Emmanuelle Béart), die auf Betreiben des Hausherrn Marcel (Dominique Lamure, der nur mit dem Rücken zum Publikum zu sehen ist) angestellt wurde und einen etwas geheimnisvollen Eindruck macht.
Marcel liegt im Bett. Als nach und nach alle anwesend sind, will man ihn wecken. Aber Marcel liegt auf dem Bauch im Bett mit einem Messer im Rücken. Selbstmord scheidet daher aus. Rasch begreifen die Anwesenden, dass der Mörder eine Mörderin sein muss. Denn niemand sonst hat das Haus betreten. Der Schnee macht es unmöglich, das Haus zu verlassen. Die Telefonleitung wurde von der Mörderin zerschnitten. Der Motor des einzigen Autos wurde absichtlich beschädigt. Jeglicher Kontakt zur Außenwelt ist unmöglich geworden. Suzon beginnt, die anderen zu befragen. Was haben sie in der Nacht getan? Es kommt heraus, dass jede der Frauen zum Teil mehrmals nachts aufgestanden waren und teilweise auch mit Marcel gesprochen haben.
Regisseur Ozon enthüllt nicht nur auf eine ihm eigene Art die Familientragödie. Er lässt jede seiner Aktricen singen, wunderbare, traurige, aber auch lebenslustige Chansons, wodurch sie alle zugleich auch in den Kinohimmel versetzt werden, zu dem sie unweigerlich als Schauspielerinnen gehören. Anders als Chabrol oder Buñuel, die den Schein, die Enge und die Verlogenheit, den diskreten Charme der Bourgeoisie in ihrer ganzen Tragik und Verächtlichkeit enthüllten, verquickt Ozon Komödie und Satire, Sarkasmus und Melodram, Agatha-Christie-Krimi und Musical zu einem wuchtigen Feuerwerk, das die ganze Falschheit, die Intrigen und Ränke, den Egoismus in der Familiengeschichte auf amüsante und doch zugleich deutliche Weise enthüllt, nicht ohne die Genre, die er bemüht, gleichzeitig und obendrein mit durch den Kakao zu ziehen.
Phänomenal! Dem Film nach einem fast vergessenen Theaterstück von Robert Thomas merkt man seine Herkunft an und auch nicht. Ozon inszeniert Theater, aber so dicht und intensiv als Film, das man es kaum bemerkt. Die Schauspielerinnen – acht Größen des französischen Kinos, die hier auch wahrlich zu meisterlicher Größe aufsteigen und gefeiert werden – spielen Figuren und zugleich sich selbst. Sie spielen das Kino, die Kinogeschichte nach. Die Deneuve, die große Darrieux, die Huppert, sie sind auch alle sie selbst, die grande dames du cinéma, aufgebaut über Jahre oder Jahrzehnte. Ihre Garderobe, ihr Spiel, der Glanz, der sie umgibt, die Aura, die sie schaffen, das ist nicht nur Ausdruck dieses Films und Ausdruck in diesem Film – das ist die Welt des Kinos selbst, die Ozon für sie und uns inszeniert hat – eine Hommage, aber auch die Darstellung der Schattenseiten des Kinogeschäfts. Wenn sie sich am Schluss verbeugen, dann ist das nicht nur der Glanz, sondern auch die Einsamkeit und das Alter, die Schattenseiten des Geschäfts.
Wenn Louise vor dem Porträt Gabys ihre Dienstmädchen-Tracht ablegt, ihre blonden Haare fallen lässt und aussieht wie die junge Catherine Deneuve und Gaby das Foto der früheren Herrin Louises (ein Foto von Romy Schneider) zu Gesicht bekommt, dann kulminiert alles in einer Szene: Das sexuelle Domestiken-Verlangen Louises, sowohl Ausdruck der Abhängigkeit der Mimen vom Filmgeschäft, als auch der verborgenen und verdrängten Gefühle der Figuren im Film, die Reminiszenz an die Großen des Kinos (auch Romy Schneider) und das Altern der Stars, als Ausdruck der menschlichen Grenzen und Begrenztheit wie der Entwicklung des Kinos durch die, die kommen. Die Deneuve und die Béart reichen sich hier die Hände und wissen doch genau, dass das Kino nicht nur etwas Erhabenes, Schönes, nicht nur l’art pour l’art ist.
Wenn sich die Deneuve und die Ardant am Boden wälzen oder die Deneuve und die Huppert in die Haare geraten, dann ist das einmalig, unwiederholbar. Wenn die Huppert anfängt zu kreischen, zu schimpfen, zu verletzen, aber auch wenn sie plötzlich ihr Hässliches-Entlein-Image ablegt und im (geborgten) Abendkleid ihrer Filmschwester die Treppe hinunter stolziert, dann werden die großen Momente des Kinos herbei zitiert: Hitchcock und Sirk, Hawks und Wilder, und all die anderen. „8 Frauen” ist auch eine Hommage an die großen Zeiten des Kinos des 20. Jahrhunderts. Die Treppe ist Zentrum, Ausgangspunkt und Endpunkt der Geschichte. Hierher strömen sie und gehen wieder weg, hier spielen sich die Dramen ab, hier wird gestorben, gelebt, gebissen und geliebt.
Ozon nimmt „kein Blatt vor den Mund”. Die Familiengeschichte ist prall gefüllt mit allem, was man sich vorstellen kann und was das Leben so zu bieten hat: ledige Mütter, falsche Väter, lesbische Liebe, Voyeurismus, unterdrückte, aber heimlich gepflegte Bedürfnisse – und trotz alledem durchdringt den Film eine immer präsente Zuneigung für die Figuren hinter all den Katastrophen und Bosheiten.
Wenn zum Schluss die Grande Dame Danielle Darrieux ihren Part singt – „Il n’y a pas d’amour heureux” – dann ist alles gesagt, alles gelebt, alles geweint und alles gelacht, und das Leben geht ein bisschen anders weiter. Kino auf dem Höhepunkt, einem seltenen. Ozon bleibt Realist, verfällt nicht in Pathos oder Kitsch. Er fasst zusammen, was das Kino in seinen besten Zeiten ausmachte, und geht darüber hinaus.