Pedro Almodóvar überlässt die Bühne endgültig seinen Schauspielerinnen
Von Christoph PetersenEs geht nicht um Sterbehilfe im engeren Sinne. Sich töten kann die krebskranke Kriegsreporterin Martha (Tilda Swinton) noch selbst, die dafür nötige Euthanasie-Pille hat sie sich mithilfe eines Mathematiker-Freundes bereits im Dark Web besorgt. Aber immer, wenn sie bei ihren Korrespondenz-Einsätzen in den Krisengebieten dieser Welt dem Tod ins Auge blickte, waren immer Kolleg*innen in ihrer Nähe. Die Reporter*innen waren füreinander fast wie eine kleine Familie. Und deshalb wünscht sich Martha, dass auch diesmal wieder jemand dabei ist, und zwar im titelgebenden Raum nebenan.
Der Arthouse-Superstar Pedro Almodóvar gibt mit „The Room Next Door“ nach zwei englischsprachigen Kurzfilmen, „The Human Voice“ und „Strange Way Of Live“, sein US-Langfilmdebüt. Aber mit der Sprache scheint der Oscargewinner (für das Drehbuch zu „Sprich mit ihr“) auch einige seiner üblichen Markenzeichen in seiner spanischen Heimat zurückgelassen zu haben. Stattdessen verlässt er sich ganz auf seine beiden Hauptdarstellerinnen, was ja auch absolut kein schlechter Plan ist, wenn diese Tilda Swinton (Oscar für „Michael Clayton“) und Julianne Moore (Oscar für „Still Alice“) heißen. Aber für den nächsten großen Wurf fehlt dann doch irgendwas.
Die Buchautorin Ingrid (Julianne Moore) ist nur die vierte Wahl. Aber das ist ja auch kein Wunder, schließlich hatten sich die Freundinnen jahrelang aus den Augen verloren und erst zufällig vor kurzem wiedergetroffen. Und trotzdem stellt Martha (Tilda Swinton) auch ihr nach den drei Absagen ihrer engsten Freundinnen die Frage, ob sie nicht im Raum nebenan sein könnte, wenn sie sich selbst das Leben nimmt. Ingrid erbittet sich zwar etwas Bedenkzeit, immerhin handelt ihr letztes Buch von ihrer eigenen Angst vor dem Tod, willigt dann aber doch ein.
Weil Martha nirgendwo sterben will, wo sie ihr bekannte Dinge womöglich noch im Leben zurückhalten könnten, fahren die beiden gemeinsam in ein zwei Fahrstunden von Manhattan entfernt liegendes Ferienhaus. Hier wollen sie, soweit es der Krebs noch zulässt, die kommenden Tage verbringen, als sei es ein Urlaub – mit kurzen Spaziergängen und langen Filmabenden. Und wenn morgens die Tür zu Marthas Schlafzimmer einmal geschlossen sein sollte, dann weiß Ingrid, dass es in der vergangenen Nacht soweit war…
Nachdem bisher noch kein Werk von ihr adaptiert wurde, erscheinen in diesem Jahr gleich zwei Filme, die auf Romanen der US-amerikanischen Schriftstellerin Sigrid Nunez basieren. Wahrscheinlich nicht ganz zufällig geht es in beiden, wenn auch auf sehr verschiedene Weise, um den Umgang mit dem Tod und die Kraft der Freundschaft: Während Naomi Watts in „The Friend“ eine ziemlich große Dogge über den Tod ihres Mentors hinweghilft, handelt „The Room Next Door“ größtenteils von der psychischen wie praktischen Vorbereitung auf den Tod. So drehen sich die Gespräche um den Aufbewahrungsort der Pille, die Anmietung der passenden Location oder all die Dinge, die Ingrid beachten muss, um später keinen Ärger mit der Polizei zu bekommen.
Aber am Ende sind es vor allem die kleinen Momente dazwischen, in denen Julianne Moore und Tilda Swinton brillant im Duett harmonieren: Vor allem eine gemeinsame Blu-ray-Sichtung von „Die Toten“, eine Verfilmung der gleichnamigen Erzählung von James Joyce, sticht als stiller emotionaler Höhepunkt des Films heraus. Doch während seine Schauspielerinnen wie sooft bei ihm die Leinwand dominieren, hält sich Almodóvar wie selten zurück. Im Flur des gemieteten High-End-Domizils, das wie das private Traumhaus eines manischen Architekten anmutet, hängt die Kopie eines Edward-Hopper-Gemäldes mit Menschen auf Sonnenstühlen. Und genau solche stehen auch im Garten, was sicher kein Zufall ist, weil Almodóvar insgesamt ein wenig den reduzierten, aber zugleich kontrastreichen Hopper-Look zu evozieren scheint.
Aber das ist alles kein Vergleich zum sonstigen Stilüberschwang des Spaniers. Daran erinnern auch die kurzen Rückblenden, die vor allem in der ersten halben Stunde eingestreut werden: Da sehen wir, wie sich der traumatisiert aus dem Vietnamkrieg zurückgekehrte Vater von Marthas Tochter todessehnsüchtig in ein lichterloh brennendes Haus stürzt, aus dem er eingebildete Hilfeschreie vernommen hat. Hier werden, typisch für den Regisseur, die Farbsättigung und die Melodramatik bis zum Anschlag aufgedreht, bevor „The Room Next Door“ zu der allzu geradlinigen und gediegenen Haupthandlung zurückkehrt.
In seinem vorherigen Langfilm „Parallele Mütter“, einem mit Thriller-Stilmitteln angereicherten Melodrama über zwei Mütter, deren Babys eventuell bei der Geburt vertauscht wurden, überraschte Pedro Almodóvar mit einem unerwarteten zweiten Handlungsstrang über die Ausgrabungen eines Massengrabes aus dem Spanischen Bürgerkrieg. Was auf den ersten Blick gar nicht zusammenpasste, erwies sich am Ende als spannende Ergänzung. In „The Next Door“ gibt es auch wieder eine solche Parallele: John Turturro spielt einen Professor, der vor vielen Jahren mal mit Ingrid und Martha eine Affäre hatte, und nun apokalyptische Vorträge über den Klimawandel hält. Aber wie hier die Unabwendbarkeit von Marthas Tod mit der Unabwendbarkeit der Klimakatastrophe nebeneinandergestellt werden, das ist nicht wie in „Parallele Mütter“ auf unheimlich inspirierend Weise herausfordernd, sondern auf ziemlich platte Weise banal.
Fazit: Abgesehen davon, dass Pedro Almodóvar einmal mehr zwei herausragenden Schauspielerinnen eine Bühne für ihre Kunst bereitet, wird nicht gänzlich klar, warum er sich ausgerechnet diesen Stoff für sein US-Langfilmdebüt ausgesucht hat. Tilda Swinton und Julianne Moore sind einmal mehr brillant, aber die eigentlich unverkennbare Handschrift des Regisseurs scheint in „The Room Next Door“ nur vereinzelt durch.
Wir haben „The Room Next Door“ beim Filmfest Venedig 2024 gesehen, wo er im offiziellen Wettbewerb gezeigt wurde.