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    Shambhala
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Shambhala

    Zweieinhalb Stunden hochgebirgige Bildgewalt

    Von Michael Meyns

    Es ist eine ganz besondere Premiere: „Shambhala“ ist der erste Film aus Nepal, der im Wettbewerb eines der drei großen Festivals Cannes, Venedig und Berlin gezeigt wurde. Doch das ist nicht das einzige Bemerkenswerte am Film von Min Bahadur Bham, der in spektakulären Bildern eine Geschichte so groß wie die umliegenden Gebirge entfaltet. Der Regisseur erzählt vom Leben in abgelegenen Dörfern des Himalaya, wo nicht Männer viele Frauen, sondern eine Frau mehrere Männer hat. Wie ein ethnologischer Blick in eine fremde Welt wirkt „Shambhala“ in einigen Momenten, insgesamt aber entwickelt er sich zunehmend zu einem epischen Melodrama, die tief in die Glaubensvorstellungen des nepalesischen Buddhismus eintaucht.

    In einem abgelegenen Dorf in Nepal, hoch im Himalaya Gebirge, lebt Pema (Thinley Lhamo) in einer polyandrischen Beziehung: Sie hat nicht einen, sondern gleich drei Ehemänner, drei Brüder, die sie in einer buddhistischen Zeremonie geheiratet hat. Ihr Lieblingsmann ist Tashi (Tenzin Dalha), dessen Bruder Karma (Sonam Topden) ist Mönch und dem lokalen Rinpoche – die buddhistische Version eines Priesters – treu verbunden. Und dann ist da noch der dritte „Ehemann“, das Kind Dawa (Karma Wangyal Gurung), zu dem Pema eher eine mütterliche Verbindung aufbaut. Doch das scheinbar bukolische Glück wird zerstört, als Tashi für einige Monate zum Handeln fort ist und Pema schwanger wird. Die Zweifel, ob er der Vater ist, bringen Tashi dazu, in den Bergen die Einsamkeit zu suchen, während Pema sich nun dem Misstrauen der übrigen Dorfgemeinschaft gegenübersieht…

    Fast jede Einstellung von „Shambhala“ ist von epischer Natur. Aditya Basnet / Shooney Films
    Fast jede Einstellung von „Shambhala“ ist von epischer Natur.

    Was sich wie eine Variante der bei jüngeren Menschen in der westlichen Welt aktuell beliebter werdenden polyamourösen Partnerschaften anhört, hat in Nepal vor allem pragmatische Gründe: Zum einen herrscht in den abgelegenen Dörfern oft Frauenmangel, denn es ist Tradition, die zweitgeborene Tochter in ein Kloster zu schicken. Zum anderen liegt der Vorteil von zwei oder mehr Ehemännern darin, dass der eine vor Ort bleibt und etwa das Feld bestellt, während der andere für Monate fort ist, denn die größeren Orte, in denen Handel betrieben wird, liegen oft wochenlange Reisen entfernt.

    Mit Lust auf freier Liebe hat dieses Beziehungsmodell also nichts zu tun. Doch wie Min Bahadur Bham in seinem zweiten Spielfilm erzählt, bedeutet dies keineswegs, dass Eifersucht und Misstrauen hier keine Rolle spielen. Gerade die traditionellen Strukturen der Dorfgemeinschaft sorgen für Probleme und veranlassen Pema, sich selbst auf die Suche nach Tashi zu machen – zum einen aus echter Zuneigung zu ihrem ersten und liebsten Ehemann, zum anderen aber auch, um ihren Namen reinzuwaschen und die Gerüchte über die Vaterschaft ihres ungeborenen Kindes zu beseitigen.

    Lange Einstellungen – und gigantische Bilder

    Ein geradezu überhöhtes Melodrama, das langsam den zunächst fast dokumentarischen Ton des Films verdrängt. Denn lange Zeit wirkt „Shambhala“ wie eine Dokumentation über eine kaum bekannte Lebensweise, hoch im Himalaya. Man sieht Riten und Tänze, traditionelle Formen der Landwirtschaft, die mächtigen, wuscheligen Yaks, all das im Schatten der schneebedeckten Berggipfel. Spektakuläre Bilder haben Bham und sein Team hier eingefangen, die durch den visuellen Stil noch eindrucksvoller, wenn nicht gar meditativ wirken.

    Bham dreht praktisch jede Szene in nur einer Einstellung. Schnelle Schnitte, konventionelle Schnitt-Gegenschnitt-Folgen gibt es nicht, kaum eine Einstellung ist kürzer als 15 oder 20 Sekunden, viele dagegen sogar drei bis vier Minuten lang. Mal in nur von Kerzenlicht beleuchteten Innenräumen, vor allem aber in den schier endlosen Weiten der Natur, entfaltet sich diese Geschichte. Dass größtenteils mit Laiendarstellern wurde gedreht, verleiht den Bildern noch zusätzliche Authentizität.

    Pema (Thinley Lhamo) muss einiges durchstehen, um ihren verschwundenen Ehemann in den Weiten des Himalaya wiederzufinden. Shooney Films / Aditya Basnet
    Pema (Thinley Lhamo) muss einiges durchstehen, um ihren verschwundenen Ehemann in den Weiten des Himalaya wiederzufinden.

    Mit erstaunlicher Souveränität inszeniert Min Bahadur Bham diese Geschichte, die sich langsam von einer fast ethnologischen Beobachtung ins Mystische bewegt. Je länger Pemas Suche dauert, je höher ins Gebirge sie aufsteigt und dabei schließlich auf sich allein gestellt ist, desto deutlicher wird der buddhistische Unterbau, auf dem die Erzählung ruht. Der Titel des Films, „Shambhala“, bezeichnet ein mystisches Königreich, einen transzendenter Ort, der mit dem Glauben an die Wiedergeburt eng verbunden ist. Inwieweit der buddhistische Glaube dabei mit der Vielehe in Einklang steht, bleibt für den Außenstehenden unklar, zumal Bham gegen Ende seines zweieinhalb Stunden langen Films mit zunehmend rätselhaften Allegorien arbeitet. Man mag das unbefriedigend finden oder es als passendes Ende eines bildgewaltigen Films verstehen, der das Publikum in eine fremde Welt führt, in die man etwa als Tourist*in in Nepal keinen Zugang hätte.

    Fazit: Dass Min Bahadur Bham „Shambhala“ absolut bildgewaltig ist, kann nicht überraschen, die Gipfel des Himalaya, die Weiten Nepals sind offensichtlich eindrucksvolle Motive. Vor denen entwickelt sich hier jedoch eine zunehmend faszinierende, mystische, am Ende auch rätselhafte Geschichte, die so vielfältige wie vielschichtige Einblicke in die nepalesische Kultur erlaubt.

    Wir haben „Shambhala“ im Rahmen der Berlinale 2024 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.

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