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    The Second Act
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    The Second Act

    Das ganze Leben ein Tracking-Shot

    Von Christoph Petersen

    Der Werdegang von Quentin Dupieux ist dermaßen faszinierend, dass man ihn am liebsten zu Beginn jeder Kritik noch einmal kurz zusammenfassen würde. Das Problem ist nur, dass der Franzose neuerdings nicht mehr alle paar Jahre einen neuen Film fertigstellt. Stattdessen waren es zuletzt sogar zwei pro Jahr: „Incredible But True“ und „Smoking Causes Coughing“ 2022, „Yannick“ und „Daaaaaali!“ 2023. Da wird’s halt irgendwann arg redundant und deshalb könnt ihr einfach in diesem alten Text nachlesen, wie der 50-Jährige einst den Sprung von einer kultigen gelben Techno-Puppe hin zu telepathischen Killer-Autoreifen vollzogen hat.

    Dabei wäre es gerade jetzt angemessen gewesen, seine ungewöhnliche Karriere zu würdigen – schließlich wurde seinem neusten Streich „The Second Act“ die große Ehre zuteil, das Cannes Filmfestival 2024 zu eröffnen. Die Wahl überrascht nicht. Festivals mögen nun mal Filme über Schauspieler*innen, schließlich sitzen bei solchen Veranstaltungen genügend von ihnen im Publikum. Wobei Dupieux den Berufsstand in seiner schwarzen Meta-Komödie nicht gerade im besten Licht erscheinen lässt. Ganz im Gegenteil!

    Wenn sich die Schauspieler*innen in die Haare kriegen, dann fließt am Set auch schon mal Blut. Chi-Fou-Mi Productions - Arte France Cinéma
    Wenn sich die Schauspieler*innen in die Haare kriegen, dann fließt am Set auch schon mal Blut.

    Wer sich bislang nur die Inhaltsangabe zu „The Second Act“ (etwa auf der Cannes-Homepage) durchgelesen hat, wird sich vielleicht fragen, wovon wir da eigentlich faseln: Meta? Schauspieler*innen? Dabei heißt es in der Synopsis doch ganz simpel: Florence (Léa Seydoux) ist schrecklich verliebt in David (Louis Garrel) und möchte ihn deshalb ihrem Vater Guillaume (Vincent Lindon) vorstellen. Aber David fühlt sich von Florence nicht angezogen und will sie deshalb mit seinem Freund Willy (Raphaël Quenard) verkuppeln. Die Vier treffen sich in einem Restaurant irgendwo im Nirgendwo…

    Das klingt nach einer typischen (französischen) Komödie. Aber schon nach ein paar Metern fallen Louis Garrel und Raphaël Quenard aus ihren Rollen. Garrel zeigt plötzlich in Richtung Kamera (also zu uns ins Publikum) und stellt seinem Kollegen die Frage: „Willst du, dass wir gecancelt werden?“ Offenbar war Quentard zuvor leicht vom Drehbuchtext abgewichen und hat im Dialog etwas über trans Personen gesagt, das das Zeug zum Shitstorm hätte. Aber während Garrel auf seinen Leinwandpartner einredet, reitet sich dieser nur noch immer tiefer herein.

    Solch ein Das-wird-man-doch-wohl-noch-sagen-dürfen-Humor gehört mittlerweile zu den absoluten Standards jedes möchtegern-provokanten Stand-up-Comedian. Aber in „The Second Act“ ist es tatsächlich witzig, was auch daran liegt, dass man als Zuschauer*in in diesem Moment immer noch rätselt, was genau man eigentlich gerade sieht: Sind wir an einem Filmset? Aber warum greift dann niemand ein, als sich die Schauspieler in die Haare kriegen? Und warum fährt die Kamera immer weiter entlang eines einsamen, nichtssagenden Landwegs neben ihnen her, als sollte hier gerade ein neuer Rekord für den längsten Tracking-Shot (also eine Aufnahme, bei der die Kamera auf Schienen neben dem Geschehen hergeschoben wird) der Geschichte aufgestellt werden?

    Wenn Paul Thomas Anderson anruft, dann wird alles gut

    In der nächsten Szene bereitet Florence ihren Vater auf das Treffen mit ihrem Schwarm vor. Aber dann steigt Vincent Lindon wütend aus dem Auto und verkündet, dass er keinen Bock mehr auf solche Indie-Scheißfilme habe. Schließlich würde die Welt da draußen gerade vor die Hunde gehen, da wäre das nun wirklich keine sinnvolle Beschäftigung. Das Bond-Girl und der „Titane“-Star steigern sich immer weiter in einen Streit über künstlerische Verantwortung hinein. Irgendwann dreht sich dieser nur noch darum, ob die Band auf der Titanic tatsächlich bis ganz zum Schluss weitergespielt hat oder ob das nur in der Version von James Cameron so war. Erst nach einem Anruf von seiner Agentin, die ihm mitteilt, dass Paul Thomas Anderson (O-Ton: „der smartere Tarantino“) ihn für seinen nächsten Film besetzten wolle, ist Lindon plötzlich wie ausgetauscht. Ganz wie damals Christoph Waltz, der seine verlorengeglaubte Spielfreude gleich zigfach wiederfand, als ihm mit „Inglourious Basterds“ sein später Durchbruch in Hollywood gelang.

    In „The Second Act“ gibt es nur etwa ein Dutzend Szenen – und sie alle laufen auf vergleichbare Art aus dem Meta-Ruder. Manches hat einen gewissen satirischen Punch, etwa die Trans-Diskussion oder eine spätere #MeToo-Debatte. Anderes ist tragikomisch, wie alles mit dem Statisten Stéphane (Manuel Guillot), der eigentlich nur Wein einschenken soll, aber vor Aufregung so sehr zittert, dass er alles trifft, nur nicht die Gläser. Manchmal wird die Abrechnung mit dem Schauspielstand auch richtig böse: So bittet Léa Seydoux ihre Chirurginnen-Mutter um Hilfe. Obwohl diese gerade mitten in einer Operation steckt, findet sie doch zumindest die Zeit, ihrer Tochter zu sagen, wie sehr sie sich für ihre letzte Fernsehrolle geschämt habe. Aber ob ernstes Thema oder nicht, die einzelnen Vignetten werden von Dupieux stets nur angeschnitten statt ausgereizt. So wird’s zwar nie langweilig, aber sonderlich tiefgründig eben auch nicht.

    Vincent Lindon will damit eifersüchtig machen, dass Paul Thomas Anderson bei ihm wegen einer Rolle angefragt habe. Chi-Fou-Mi Productions - Arte France Cinéma
    Vincent Lindon will damit eifersüchtig machen, dass Paul Thomas Anderson bei ihm wegen einer Rolle angefragt habe.

    Vor dem Abspann gibt es zudem noch eine minutenlange Szene, in der die Kamera einfach nur die Schienen filmt, auf denen sie zuvor die ganze Zeit neben den gehenden Schauspieler*innen hergefahren ist. Über Hunderte Meter erstreckt sich das Gleissystem – ein Wahnsinnsaufwand im Vergleich zu den sonst so minimalistischen Kulissen. Da scheint schon ein beträchtlicher Teil des Budgets hineingeflossen zu sein, nur damit man filmen kann, wie die Darsteller*innen vor einer Wiese im Nirgendwo und damit vor einem maximal unspektakulären Hintergrund entlangspazieren. Also entweder ist das ein Insiderwitz, mit dem Dupieux zum Abschluss noch mal seinen eigenen Produzenten ob des rausgeschmissenen Geldes die lange Nase zeigt. Oder es ist tatsächlich ein Rekord.

    Fazit: Ein Film-im-Film-im-Film oder am Ende doch alles nur KI? „The Second Act“ ist eine weitere gelungene Meta-Fingerübung von „Reality“-Regisseur Quentin Dupieux, in der er diesmal zwar auch schwerere Themen wie #MeToo und Repräsentation anschneidet, aber am Ende doch vor allem leichtfüßig-surreale und manchmal ganz schön fiese Unterhaltung bietet.

    Wir haben „The Second Act“ beim Cannes Filmfestival 2024 gesehen.

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