Was haben wir da gesehen?
Von Lars-Christian DanielsDem Schauspieler, (Dreh-)Buchautor, Cutter, Hörspielsprecher und als Hip-Hop-Musiker „Käptn Peng“ bekannt gewordenen Robert Gwisdek wurde das Filmemachen geradezu in die Wiege gelegt: Als Sohn des 2020 verstorbenen Adolf-Grimme-Preisträgers Michael Gwisdek und der ebenfalls vielfach prämierten Berliner „Tatort“-Ermittlerin Corinna Harfouch stand das Multitalent schon im zarten Kindergartenalter für erste Aufnahmen vor der Kamera. In den Jahren danach folgten zahlreiche Auftritte für Kino und Fernsehen (etwa in „13 Semester“ oder „Renn, wenn du kannst“) und nun der Wechsel in eine andere Rolle: Gwisdek gründete 2022 seine eigene Filmproduktionsfirma.
Die bringt mit „Der Junge, dem die Welt gehört“ seinen ausgefallenen Debütfilm in die Kinos – mit Corinna Harfouch in einer Hauptrolle. Ob Gwisdeks Erstling trotz der populären Schauspielerin ein großes Publikum erreichen wird, erscheint allerdings fraglich: Der Film kommt als Frontalangriff auf unsere Sehgewohnheiten daher und wirft fast im Minutentakt neue Fragen auf. Die meisten davon müssen wir für uns selbst beantworten – mit dieser bewussten Undurchdringlichkeit muss der Film geradezu polarisieren.
Gwisdek gliedert seinen Film, der viele deutsch untertitelte Dialoge auf Italienisch und Französisch enthält, in fünf Akte, wie wir das aus dem Theater kennen. Die ersten vier Abschnitte betitelt er nach den wichtigsten Figuren des Fünf-Personen-Stücks: Basilio (Julian Vincenzo Faber), Kasimir (Denis Lavant), Karla (Chiara Höflich) und Edna (Corinna Harfouch). Akt 5 heißt „The Poem“ und lässt den metaphorisch arrangierten Film in einem Höhepunkt gipfeln, in dem diese schrägen Charaktere am Ende aufeinandertreffen – was aber nicht zwingend heißt, dass sich dann Durchblick einstellt. „Die Welt ist eine Metapher. Und deine Aufgabe besteht darin, herauszufinden wofür“, säuselt Edna beim Finale aus dem Off. Mit dieser Einlassung lässt sich der ganze Film vortrefflich beschreiben.
Entsprechend schwer fällt eine Zusammenfassung dessen, was wir hier eigentlich zu sehen bekommen: Wir lernen einleitend den jungen Künstler Basilio kennen, der gemeinsam mit dem schrulligen und stets Schlafanzug tragenden Kasimir in einer viel zu großen alten Villa auf Sizilien lebt. Aber er findet weder die richtigen Worte noch die richtigen Töne für ein neues Stück, steckt in einer „scheiß Poesie-Bullshit-Blase“. Eines Tages trifft er im Laden des plauderfreudigen Ricardo (Paolo Mannina) die gleichaltrige Karla und fühlt sich gleich mit ihr verbunden. Er ahnt nicht, wer und was sich Erstaunliches hinter Karla verbirgt – und doch fixieren die beiden ihre junge Liebe schon bald in einem Ehevertrag.
Die mit Leerstellen gespickte Handlung folgt keinem Narrativ im eigentlichen Sinne, wirkt sprunghaft, provokant und abstrakt. Das hat etwas Bühnenhaftes: ein bizarres Theaterstück als Film, ein melancholisches Gedicht als Drehbuch. Gwisdeks Produktionsfirma Kreisfilm trat in den Vorankündigungen einer Kinotour die Flucht nach vorn an; veröffentlichte ein selbstironisches Erklär-Reel und schrieb auf Instagram selbstbewusst von einem „als Liebesfilm getarnten Origami“. Man freue sich auf die Diskussionen, und ja: Während das typische Liebesfilmpublikum wenig Freude an Gwisdeks eineinhalbstündigem Verwirrspiel finden dürfte, kann man nach dem Abspann stundenlang interpretieren, was man da eigentlich gerade gesehen hat.
In seinen konventionellsten Momenten – etwa dann, wenn der in den Tag lebende Basilio in Ricardos Laden Espresso trinkt und ums Trinkgeld feilscht – erinnert „Der Junge, dem die Welt gehört“ an Jan-Ole Gersters ebenfalls konsequent in Schwarz-Weiß-Bildern gehaltene Tragikomödie „Oh Boy“. Auch darin kämpft ein junger Mann in einer Lebenskrise mit dem Alltag, so wie es hier Basilio tut, der mit seinen Texten hadert. Andere Sequenzen in der sizilianischen Villa wirken derartig bizarr und überhöht, dass wir uns im Gruselkabinett oder in einer düsteren Operette wähnen. Ein roter Faden lässt sich am ehesten im dritten und vierten Akt erkennen, in dem die zunächst klassisch anmutende Liebesstory zwischen Basilio und Karla Fahrt aufnimmt – ehe Akt 5 wieder elementare Fragen aufwirft.
Haben Schuhe eine Seele? Definiert Basilio die Welt hinter einer Tür, wenn er ihre Schwelle überschreitet? Und wem gehören die Baumwurzeln, wenn er seine Welt mit Karla teilen muss? Wie viel oder wie wenig man mit solchen philosophischen Fragen und mit „Der Junge, dem die Welt gehört“ im Allgemeinen anfangen, wie viel Spaß man an solch experimentellen Arrangements finden kann, muss letztlich jede*r für sich selbst entscheiden. Der Autor dieser Zeilen ist zwischen großem Kino und großem Quatsch hin- und hergerissen – gut möglich, dass Gwisdeks Film einer der Sorte ist, die man bei der zweiten Sichtung ganz anders wahrnimmt. Die FILMSTARTS-Wertung zu dieser Kritik spiegelt jedenfalls das wider, was der Film so gar nicht ist und sein will: graues Mittelmaß.
Ein Kompliment ist aber in jedem Fall der spielfreudigen Besetzung zu machen: Gerade Denis Lavant, der einst mit Robert Gwisdek für „3 Tage in Quiberon“ vor der Kamera stand, gibt dem Affen in seiner quasimodohaften Sidekick-Rolle als zornig-exzentrischer Mentor des verhinderten Künstlers ordentlich Zucker. Corinna Harfouchs Part fällt überraschend klein, aber umso rätselhafter aus: Erst spät beginnen wir zu ahnen, was ihre ewige Stickerei und die bedeutungsschwangeren Einlassungen zu bedeuten haben. Der als Singer-Songwriter aktive Faber liefert ein sympathisches Debüt vor der Kamera und gibt ein paar Kostproben seiner Gesangsqualitäten, während Debütantin Chiara Höflich als eine Art multiple Persönlichkeit gefordert ist und gleich vier Karlas auf einmal spielt.
Fazit: Robert Gwisdek feiert mit „Der Junge, dem die Welt gehört“ ein stellenweise faszinierendes, aber auch äußerst anstrengendes Debüt hinter der Kamera – der ganz große Durchblick dürfte sich beim Publikum nach dem Abspann des als Liebesfilm getarnten Rätsels aber nicht einstellen. Und genau das ist auch wohl so gewollt.