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    Liebesbriefe aus Nizza
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Liebesbriefe aus Nizza

    Ein Eifersuchtsanfall mit 40 Jahren Verspätung

    Von Gaby Sikorski

    Die Cote d‘Azur ist nicht nur mit herrlichen Stränden und einer grandiosen Landschaft gesegnet, sondern auch mit einer Reihe von Sehnsuchtsorten, deren Namen direkt nach strahlendem Sonnenschein und eisgekühltem Champagner klingen: Saint Tropez, Antibes, die Filmmetropole Cannes und natürlich Nizza, die größte Stadt an der französischen Riviera. Hier lebten nachgewiesenermaßen schon vor mehr als 400.000 Jahren Menschen – auch damals wusste man offenbar, wo es besonders schön ist. Die atemberaubende Aussicht auf das azurblaue Meer, auf die berühmte Strandpromenade und in die alten Gassen bildet in „Liebesbriefe aus Nizza“ den Rahmen für eine turbulente Boulevard-Komödie mit elegant-trockenem Humor und einer unerwarteten Tiefe.

    Alter schützt vor Liebe nicht. Aber auch nicht vor Eifersucht – und das nicht einmal, wenn man schon ein halbes Jahrhundert verheiratet ist. Diese schmerzliche Erfahrung stürzt den pensionierten General François Marsault (André Dussollier) in ein Beziehungsdrama von unerwarteten Ausmaßen. Gerade eben feierte er noch gutgelaunt mit der Familie den Geburtstag seiner Frau Annie (Sabine Azéma), aber nun bringt ein zufällig aufgetauchter Stapel Briefe aus dem Jahr 1983, mit einer niedlichen roten Schleife zusammengebunden, sein ganzes Weltbild ins Rutschen: Mit inbrünstiger Leidenschaft geht es darin unter anderem um Annies „explodierendes Venusdreieck“.

    Unterschrieben wurden die Briefe von einem Jugendfreund, den François zwar aus den Augen verloren hat, aber an den er sich immer noch erinnert – jetzt allerdings nicht mehr so gern: Boris (Thierry Lhermitte) ist einer von den Jungs, die früher am Strand von Nizza Gitarre gespielt haben. François ist ein Mann von großer Prinzipientreue, daher spielt die Tatsache, dass Annies Affäre bereits 40 Jahre her ist, für ihn überhaupt keine Rolle. Keine Verjährung für Ehebruch! So lautet seine Devise, die ihm als Begründung für eine veritable Kriegserklärung dient. Dank seiner Geheimdienstkontakte ist der Nebenbuhler schnell aufgespürt, der private Feldzug führt ihn schnurstracks nach Nizza…

    Von Rachedurst getrieben, hat François Marsault (André Dussollier) wenig Lust, die Schönheit der Cote d’Azur zu genießen. Neue Visionen Filmverleih
    Von Rachedurst getrieben, hat François Marsault (André Dussollier) wenig Lust, die Schönheit der Cote d’Azur zu genießen.

    Das Besondere an französischen Boulevard-Filmkomödien ist die Selbstverständlichkeit, mit der in oft bestechender Eleganz inmitten einer scheinbar ziemlich trivialen Handlung durchaus kontroverse Themen aufgegriffen werden, manchmal nur am Rande und in hübscher Beiläufigkeit. Hier ist das zunächst mal François‘ Militärfimmel, verbunden mit seiner extrem konservativen Grundhaltung, die im Verlauf der Handlung ad absurdum geführt wird. André Dussollier („Alles ist gutgegangen“), eigentlich eher bekannt als Charakterdarsteller und weniger als Komiker, spielt den zunächst wenig sympathischen Ex-General, der mit seiner antiquierten Vorstellung von Männlichkeit die ganze Familie tyrannisiert.

    Seine auf Annie umgetextete Geburtstagsversion der Marseillaise wird zwar von allen pflichtschuldig mitgesungen, aber hinter François‘ Rücken geht es alles andere als freundlich zu. „Nett, die kleine Nazi-Party“, heißt es da. Besonders der jüngere Sohn Adrien (Sébastien Chassagne), der zum Leidwesen seines Vaters Puppenspieler statt Soldat geworden ist, fragt sich schon mal, was seine Mutter wohl an diesem Kerl gefunden haben könnte. Doch auch sein älterer Bruder Amaury (Gaël Giraudeau) hat es schwer. Er ist zwar beim Militär, aber in den Augen seines Vaters dennoch ein Versager, weil er nach vier Töchtern noch immer auf die Geburt eines Sohnes wartet. Daneben gibt es auch noch eine Schwester, Capucine (Joséphine de Meaux), die sich mit voller Absicht von ihrem Vater fernhält und in Nizza lebt.

    Erstaunlich tiefgründig

    Frühstück bei Monsieur Henri“-Regisseur Ivan Calbérac hat die Ehekomödie nicht nur inszeniert, sondern auch selbst das Drehbuch geschrieben. Manches wirkt anfangs vorhersehbar und erinnert an einen gewissen Monsieur Claude und seine Familie. Doch was Calbérac mit den bewährten Mitteln des französischen Boulevardkinos beginnt, entwickelt sich relativ unerwartet zu einer poetischen und immer noch witzigen, aber auch ziemlich tiefgründigen Auseinandersetzung mit dem Älterwerden, der Vergangenheit und allgemein den Erwartungen an die Liebe und das Leben.

    Dabei erweisen sich André Dussolier, Sabine Azéma und Thierry Lhermitte als kongeniales Team. Dussolier und Azéma spielten bereits früher in vielen Alain-Resnais-Filmen zusammen. Das ist zu sehen und zu spüren: Da ist eine wie selbstverständliche, vertraute Bindung, aber auch eine gewisse, leicht ironische Distanz, die absolut belebend wirkt. Sabine Azéma, noch immer schön, elegant und lebhaft, darf dabei immer mehr aufdrehen. Sie ist hier keineswegs schmückendes Beiwerk, sondern wird im Verlauf der Handlung immer wichtiger und raumgreifender. Ihre Annie ist eine selbstbewusste, feinsinnige Persönlichkeit, unternehmungslustig und mit einem gesunden Pragmatismus gesegnet. Dadurch unterscheidet sie sich stark von ihrem rustikalen Ehemann, der deutlich älter wirkt als sie und ziemlich wenig draufhat, außer dass er gern Sprüche klopft.

    Nach einem halben Jahrhundert wird die Ehe von François und Annie (Sabine Azéma) auf eine harte Probe gestellt – wegen eines Seitensprungs vor 40 (!) Jahren. Neue Visionen Filmverleih
    Nach einem halben Jahrhundert wird die Ehe von François und Annie (Sabine Azéma) auf eine harte Probe gestellt – wegen eines Seitensprungs vor 40 (!) Jahren.

    „Ein verletzter Löwe ist immer grausam“, gehört ebenso dazu wie „Ich poliere ihm die Fresse“, wenn es um den geplanten Feldzug gegen Annies Ex-Lover geht. Und der ist dann wirklich eine prachtvolle Überraschung. Denn Boris entpuppt sich als extrem fitter und flotter Mann. Thierry Lhermitte spielt ihn mit lässigem Charme und leiser Komik als gut erhaltenen Frauenhelden – ein Schmetterling, der noch immer von Blüte zu Blüte fliegt. Dieser attraktive Kerl ist entgegen den Erwartungen seines Widersachers alles andere als ein hilfloser Tattergreis, im Gegenteil: Er ist tatsächlich als Karate-Trainer tätig. Darauf fällt Annie gegenüber ihrem Mann nur eines ein: „Jetzt steckst du in der Scheiße.“

    Selbstverständlich hat sie François nach Nizza begleitet, obwohl sie seine Eifersuchtsattacken und seine geplante Vendetta zunächst eher mit Amüsement als mit Sorge beobachtet. Eigentlich reist sie mit, weil sie das Schlimmste verhindern will, aber vielleicht möchte sie ja nicht nur ihre Tochter wiedersehen, sondern auch Boris? Der erweist sich als richtig netter Kerl, der sich freut, die beiden wiederzutreffen, und damit dem vor Eifersucht schäumenden François den Wind aus den Segeln nimmt. Aber so leicht lässt sich ein alter Macho wie François nicht von seinen Plänen abbringen. Der geplante Privatkrieg muss durchgezogen werden, und François steigert sich immer mehr in seinen Rachefeldzug hinein. Trotz der schönen Aussichten aufs Mittelmeer und der Erinnerungen an ihre Jugend müssen sich Annie und François mit dem Gedanken befassen, dass ihre Ehe auf der Kippe steht. Sind sie beide zu weit gegangen?

    Fazit: Eine Ehekrise wegen einer Affäre vor 40 Jahren wird für Annie und François zur späten und unerwarteten Bewährungsprobe. Vor dem Hintergrund der traumhaft schönen Côte d’Azur spielen drei Altstars des französischen Kinos mit viel Witz, Herz und Temperament die Hauptrollen in einer Komödie, die nach einem turbulenten, eher durchschnittlichen Start immer mehr an Tiefgang gewinnt. Mit Witz, Herz und Verstand.

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