Die oft sogar noch spannendere Alternative zum aktuellen True-Crime-Einerlei
Von Björn BecherWenig scheint so beliebt wie Geschichten rund um echte Verbrechen. Wohl jede renommierte Tageszeitung hat in den vergangenen Jahren in einem Artikel versucht, „dem Hype auf den Grund zu gehen“. Sowohl in den deutschen Podcast- als auch Streaming-Charts finden sich regelmäßig True-Crime-Titel auf den vorderen Plätzen. Vor allem Netflix haut eine Produktion nach der anderen raus, die alle einer recht ähnlichen Formel folgen: Oft auf Mini-Serien-Länge aufgeblasen wird mit dauerhafter und ziemlich penetranter Musik-Untermalung immer wieder künstlich die Spannung angezogen. Dazu tragen auch bewusst in die Irre führende Storypfade und lange vorab mit Cliffhangern geteaserte Wendungen bei. Auch die völlig überinszenierten Nachstellungen angeblicher Begebenheiten sind Teil von Titeln wie „Lover, Stalker Killer“ oder „Verschwunden: Tatort Cecil Hotel“.
Matthias Freiers Kinofilm „Die Unsichtbaren“ wirkt nun wie der bewusste Gegenentwurf zu solchen Netflix-Produktionen (oder der denselben Fall behandelnden Amazon-Prime-Serie „German Crime Story: Gefesselt“). Der Regisseur setzt zwar ebenfalls auf Nachstellungen mit Schauspieler*innen, die aber dieselbe nüchterne Unaufgeregtheit ausstrahlen wie seine gesamte Inszenierung. Der Regisseur rollt dabei nicht nur den Fall des sogenannten „Säurefassmörders“ Lutz Reinstrom auf, der Anfang der 1990er-Jahre für viel Aufsehen sorgte, sondern errichtet vor allem der Frau, die ihn gegen alle Widerstände überführte, ein Denkmal: Marianne Atzeroth-Freier, Hamburger Polizistin und die Stiefmutter des Regisseurs. Die zurückgenommene Inszenierung erweist sich dabei als Vorteil, weil sie all die außergewöhnlichen Aspekte des Falls für sich wirken lässt – zumal sich dann auch noch das verfügbare Archivmaterial als absoluter Glücksfall für den fesselnden Dokumentarfilm erweist.
Zunächst wird erzählt, wie es für Frauen in einer noch nicht auf weibliches Personal eingestellten Hamburger Polizei beim Dienstantritt der Protagonistin im Jahr 1978 war. Nach wenigen Jahren bei der Streife wird Marianne Atzeroth-Freier Kommissarin und landete so in der Abteilung, in die man Frauen damals eben steckte – der Sitte. Nach neun Jahren folgte der Wechsel zur Verhandlungsgruppe, die bei Geiselnahmen mit den Täter*innen spricht und vor allem bei Entführungen die Angehörigen der Opfer betreut. Dort ist sie an der Aufklärung eines Falls beteiligt, der dazu führt, dass Lutz Reinstrom als Entführer ins Gefängnis kommt. Anschließend wechselt Atzeroth-Freier als eine der ersten Frauen zur Mordkommission – und hat dort erst einmal einen schweren Stand.
Als sie auf zwei verschwundene Frauen aufmerksam wird, die ebenfalls mit Lutz Reinstrom bekannt waren, ist ihre Neugier geweckt. Vor allem verdutzt es sie, dass sich die Briefe und Postkarten, welche die angeblich aus freien Stücken ins Ausland abgehauenen Frauen immer wieder mal nach Hause schicken, so unglaublich ähneln. Ihr ist klar: So identisch können zwei völlig verschiedene Menschen nicht schreiben. Ein Verbrechen ist passiert! Ihr Vorgesetzter weigert sich aber, offiziell einen Fall zu eröffnen: keine Leichen, keine Morde! Selbst als Atzeroth-Freier immer mehr Ungereimtheiten und Indizien zusammenträgt, gibt es keine Rückendeckung und keine Bewegung. Doch sie bleibt hartnäckig...
Matthias Freier erzählt die Geschichte seiner verstorbenen Stiefmutter und der Aufklärung des spektakulären Kriminalfalls mit vielen üblichen Mitteln des Dokumentar-Kinos. Es gibt die bekannten Talking Heads, vor allem Interviews mit den damaligen Kolleg*innen von Atzeroth-Freier, aber auch mit Angehörigen der beiden Opfer. Aufgelockert wird das mit szenischen Nachstellungen – wobei der Fokus hier aber gerade nicht auf das schreckliche Verbrechen, sondern auf den Alltag in der Polizeibehörde und die Ermittlungen der Kommissarin gelegt wird. Dazu kommt historisches Material – von TV-Berichterstattungen über den Fall bis zu heute befremdlich wirkenden Ausschnitten aus einer TV-Dokumentation über Frauen im Polizeidienst.
Vor allem aber hatte Freier Zugang zu ganz besonderem Material. Es gibt Tonbänder, in denen seine Stiefmutter die Ereignisse rekapituliert. Dies macht sie auch in Tagebucheinträgen, welche Schauspielerin Maren Eggert („Ich bin dein Mensch“) als Off-Sprecherin vorträgt. Dann ist da noch Atzeroth-Freiers junger Kollege Andreas Lohmeyer. Frisch bei der Mordkommission war er damals der Erste, der sich ihre zusammengetragenen Indizien auch anschaute. Und er war Hobbyfilmer. So hat er den Büroalltag der schließlich doch noch einberufenen Sonderkommission mit der Kamera begleitet. Der daraus entstandene, im Stil einer 90er-Vorabendserie geschnittene VHS-Film mit dem Titel: „SOKO 924 – Der Film“ ist ein wunderbares Kleinod, von dem man gerne mehr gesehen hätte – gerade weil in der zweiten Hälfte das eine oder andere Interview nur noch wenig Neues beizutragen hat. Aber wenn man die deutsche True-Crime-Päpstin Sabine Rückert („Die Zeit - Verbrechen“) spricht, will man sie dann halt auch unbedingt groß genug in den Film einbauen.
Aus seinem Material gestaltet Freier insgesamt eine im Anschluss an den etwas routinierten Einstieg nach und nach an Spannung gewinnende Nacherzählung der Ereignisse, die keine künstliche Verschärfung durch dramatische Musik oder in die Irre führende Stränge braucht. Er spielt immer mit offenen Karten, hält auch keine Informationen zurück, um diese später erst mit vollem Effekt zu enthüllen. Das ist auch alles gar nicht nötig, weil alles schon für sich so eine Wirkung hat: die Erschütterung über die unglaublich schockierenden Details der von Reinstrom begangenen Morde; die Wut über das Versagen der Polizeibehörde; die Bewunderung über Atzeroth-Freiers Willen; das Mitgefühl mit den Angehörigen der Opfer; die Bewunderung, wie eine der Ermordeten noch im Angesichts des Todes analytisch Hinweise für die Aufklärung hinterlassen konnte; das bis heute andauernde Rätseln, ob es noch mehr Opfer geben könnte.
Fazit: Ein sehenswerter True-Crime-Dokumentarfilm, der gar nicht die künstliche Spannungserzeugung vieler heutiger Genre-Hits braucht, sondern sich voll auf seinen bemerkenswerten Fall und seine nicht weniger bemerkenswerte Protagonistin verlassen kann.