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    Juliette im Frühling
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Juliette im Frühling

    Alltagswahnsinn mit jeder Menge französischem Esprit

    Von Gaby Sikorski

    Izïa Higelin stammt aus einer in Frankreich sehr bekannten Künstlerfamilie: Ihre Mutter ist die tunesische Sängerin und Tänzerin Aziza, ihr Vater war der Sänger und Schauspieler Jacques Higelin. Mit 13 schrieb sie ihren ersten Song, mit 15 schmiss Izïa die Schule, um Rock-Sängerin zu werden. Ihre Vorbilder waren Led Zeppelin und Nirvana. Zunächst trat sie oft mit ihrem Vater und mit ihrem älteren Bruder auf, der unter dem Künstlernamen Arthur H. als Singer-Songwriter bekannt ist. Als 17-Jährige hatte sie einen gemeinsamen Auftritt mit Iggy Pop, dem Godfather Of Punk. 2009, als Izïa gerade 19 Jahre alt war, erschien ihr erstes Album „Izia“. Vier weitere Alben und viele Live-Tourneen folgten. Mit ihrer ungewöhnlichen Stimme, sowohl punkige Rockröhre als auch gefühlvolle Chansonette, singt sie Songs, die oft in freundlich melodischer Harmlosigkeit beginnen und sich zu vollem musikalischen Einsatz steigern.

    Seit 2011 ist das Multitalent auch als Schauspielerin tätig. Für ihre erste Hauptrolle in „Mauvaise Fille“ (2012) erhielt Izïa Higelin direkt den César für die Beste Nachwuchsschauspielerin. Zuletzt war sie in den deutschen Kinos in der Bestsellerverfilmung „Auf dem Weg“ an der Seite von Jean Dujardin zu sehen. Mit der Titelrolle in der Komödie „Juliette im Frühling“ übernahm Izïa Higelin nun ihre bisher größte schauspielerische Aufgabe: Sie spielt einen komplizierten Charakter, die Künstlerin und Kinderbuch-Illustratorin Juliette, eine zurückhaltende junge Frau, die für zwei Wochen Paris verlässt, um ihre Familie in der Kleinstadt St. André de Corcy zu besuchen. Doch aus dem erholsamen Urlaub wird erstmal nichts.

    Die titelgebende Juliette (Izïa Higelin) besucht ihre Kleinstadt-Familie – da ist einiger Stress vorprogrammiert. Pandora Filmverleih
    Die titelgebende Juliette (Izïa Higelin) besucht ihre Kleinstadt-Familie – da ist einiger Stress vorprogrammiert.

    Es geht schon gut los: Niemand holt Juliette am Bahnhof ab, und so muss sie die ganze Strecke bis zur Wohnung ihres Vaters (Jean-Pierre Darroussin) laufen. Er beklagt seine Vergesslichkeit, irgendwie hatte er gar nicht auf dem Schirm, dass Juliette schon heute kommen wollte. Bei Juliettes Schwester Marylou (Sophie Guillemin), die mit ihrem Mann Stéphane (Eric Caravaca) und den beiden Töchtern in einem schicken Haus lebt, ist derweil mal wieder die Hölle los. Die gestresste Marylou versucht verzweifelt, die Kontrolle über das häusliche Chaos zurückzugewinnen, ihre Töchter rechtzeitig zur Schule zu bringen und pünktlich zu ihrem ersten Termin als mobile Frisörin zu fahren. Kaum ist sie wieder zu Hause, empfängt sie ihren Liebhaber (Thomas de Pourquery). Als Juliette vorbeikommt, ist er schon wieder weg und es scheint, als ob sich Marylou tatsächlich etwas entspannt hat. Für Juliettes Probleme, die sie leichthin als „kleine Nöte“ abtut, hat sie trotzdem kein Ohr.

    Und so ist es auch bei den anderen. Jede Person in dieser Familie scheint aus den unterschiedlichsten Gründen vor allem mit sich selbst beschäftigt zu sein. Niemand nimmt sie ernst, und statt sich zu erholen, lässt sich Juliette in den Strudel der Ereignisse hineinziehen. Da geht es um Juliettes und Marylous Mutter (Noèmie Lvovsky), eine lebenslustige Malerin, und um Juliettes geliebte Oma (Liliane Rovère), die gerade ins Seniorenheim umgezogen ist. Um den leicht zauseligen Vater, der sich ständig selbst bemitleidet, und um Marylou, die mit ihren Eskapaden ihre Lebenskrise übertüncht. Nur bei Polux (Salif Cissé), dem Untermieter ihrer Oma, findet Juliette Verständnis…

    Eine Graphic Novel als Vorlage

    Blandine Lenoir, die bereits mit „Madame Aurora und der Duft von Frühling“ einen Überraschungserfolg landen konnte, hat gemeinsam mit der Drehbuchautorin Maud Ameline aus der autobiografisch angehauchten Graphic Novel von Camille Jourdy (» bei Amazon bestellen*) eine temporeiche Komödie geformt, in der sie genau den richtigen Ton trifft: Obwohl der Film durchgängig unterhaltsam bleibt, verfügt er doch über einigen Tiefgang, der vor allem unterschwellig daherkommt. Da wird nicht psychologisiert oder groß erklärt, sondern das Publikum darf sich anhand von Hinweisen selbst einen Reim darauf machen, was eigentlich mit Juliette los ist. Doch diese Hintergründe scheinen lediglich durch, im Vordergrund steht eine abwechslungsreiche Handlung zwischen verschiedensten Schauplätzen: Vaters Wohnung, Omas Seniorenheim, Marylous Haus inklusive Gewächshaus und Garten, wo Marylou schon mal nackt mit ihrem Lover herumrennt, und natürlich das alte Haus ihrer geliebten Großmutter, mit dem sich Juliette so eng verbunden fühlt. Hier lebt auch Polux in seiner kleinen Dachwohnung. Er scheint lange Zeit der einzige aus ihrer Umgebung zu sein, der Juliette und ihre Befindlichkeiten ernst nimmt.

    Ähnlich wie in „Madame Aurora“ verzichtet Blandine Lenoir auf eine klare Handlung, die auf direktem Weg von A nach B führt. Stattdessen verlässt sie sich auf eine stark verzweigte und verästelte Geschichte mit vielen unterschiedlichen Charakteren, die immer mehr auszuufern scheint. Das ist allein aufgrund der Vielfalt bereits eine angenehme Form des Erzählens, auch wenn keine großen Krisen und Höhepunkte im Sinne einer klassischen Dramaturgie vorhanden sind. Doch zum einen behält Blandine Lenoir die Übersicht und führt am Ende alle Fäden zusammen, zum anderen bietet sie ein buntes und immer liebenswertes Humorprogramm zwischen Slapstick und sanfter Komödie. Es gibt auch einige anrührende Szenen, aber vor allem eine Fülle an komischen Details und Running Gags. Darunter das Entenküken Norbert à l’Orange oder die fantasievollen Verkleidungen von Marylous Lover, mit denen er das Liebesleben im Gewächshaus zusätzlich anheizt.

    Ihr Vater (Jean-Pierre Darroussin) ist viel zu verplant, um zu erkennen, was mit Juliette los ist. Pandora Filmverleih
    Ihr Vater (Jean-Pierre Darroussin) ist viel zu verplant, um zu erkennen, was mit Juliette los ist.

    Doch die kleinen Ausflüge in die Krawallkomik, wenn auch erfrischend, bleiben eine Randerscheinung, denn es geht um die Familie, um den Zusammenhalt im Irrsinn und um die Absurdität des Alltags. Jeder der Charaktere hat seine sympathischen Eigenheiten, und Blandine Lenoir erforscht sie ebenso liebevoll wie klarsichtig. Juliette ist zwar ein Teil dieser leicht bis mittelstark durchgeknallten Familie, aber sie ist anders: Sie beobachtet das seltsame Treiben ihrer Angehörigen aufmerksam, aber distanziert. Sie ist es gewohnt, dass man ihr nicht zuhört, und deshalb spricht sie wenig. Izïa Higelin macht das ganz großartig: Sie spielt diesen schwierigen Charakter einer verwirrten jungen Frau, die eigentlich jede Menge Seelenschmerz mit sich herumschleppt, mit viel Ernsthaftigkeit und mit leicht ironischer Distanz so gut, dass es manchmal wehtut.

    Ihre ausdrucksvollen dunklen Augen verfolgen aufmerksam, was um sie herum geschieht. Sie zeichnet, was sie beobachtet. Dabei zeigt Izïa Higelin in ihrem zurückhaltenden und dennoch intensiven Spiel, dass sie mit großartigen und erfahrenen Darstellerinnen wie Noémie Lvovsky („Der Glanz der Unsichtbaren“) und Liliane Rovère (die Arlette aus „Call My Agent“) scheinbar mühelos mithalten kann. Ihre größte Leistung aber ist, dass sie eine Frau mit vielen Problemen spielt, ohne dass die Probleme im Vordergrund stehen. Es geht ihr um die Familie, die inmitten der Fährnisse des Lebens für sie so etwas wie der Fels in der Brandung sein könnte. Jedenfalls theoretisch, vorausgesetzt, dass ein Hauch von Normalität in den täglichen Irrsinn einzieht. Aber was ist schon normal?

    Fazit: Die liebenswerte Komödie erzählt viele kleine Geschichten rund um ein stets aktuelles Thema: die Familie. Die Heldin ist eine junge Künstlerin, die Kinderbücher illustriert. Sie findet bei ihrer eigenen Familie zwar keine Ruhe, aber viel Inspiration für ihre Zeichnungen. Und so ganz nebenbei vielleicht sogar ein paar Möglichkeiten, um sich von den Erschütterungen und Verwirrungen zu lösen, die sie seit ihrer Kindheit mit sich herumträgt. Das alles ist mit leichter Hand und temporeich inszeniert und sehr unterhaltsam. Charmant!

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