Der letzte Schrei
Von Michael MeynsSelbst Menschen, die sich wenig bis gar nicht für Kunst interessieren, kennen „Der Schrei“ – jenes Gemälde des norwegischen Malers Edvard Munch, das so bekannt ist, dass es selbst bei den „Simpsons“ zitiert wurde. Wer der Mann hinter der Kunst war, versucht Henrik Martin Dahlsbakken nun mit „Munch“ zu ergründen, wobei er bewusst keinen konventionellen biographischen Film gedreht hat, bei dem penibel Lebensstationen abgehakt und eine komplexe Persönlichkeit anhand von simpler Psychologie verklärt wird. Stattdessen wählt Dahlsbakken eine ambitionierte erzählerische Form, lässt Munch von gleich drei Darstellern und einer Darstellerin (!) spielen und stellt sich so offensiv gegen die Konventionen des Kino-Biopics. Das macht diesen Künstlerfilm mutig, aber auch angreifbar.
Oslo, 1943: Edvard Munch ist ein alter Mann (in dieser Lebensphase gespielt von Anne Krigsvoll), der in einem mondänen Haus zusammen mit hunderten, wenn nicht gar tausenden Gemälden „lebt“, die auch das Interesse der Nazis wecken, die während des Zweiten Weltkriegs Norwegen besetzt halten. Mit 21 (jetzt Alfred Ekker Strande) steht Munch noch am Anfang seiner Karriere und ist unglücklich verliebt in die verheiratete Milly (Thea Lambrechts Vaulen). Eine der wichtigsten Stationen in Munchs Leben ist sein Aufenthalt in Berlin, wo er als 30-Jähriger (Mattis Herman Nyquist) auf viele andere Künstler trifft, darunter der schwedischen Autor August Strindberg (Lisa Carlehed). Hier trinkt er zu viel und versinkt so im typischen Berliner Exzess. Auch deswegen verbringt der 45-jährige Munch (Ola G. Furuseth) Zeit in einer Nervenklinik, wo ihm der Arzt Daniel Jacobsen (Jesper Christensen) eine wertvolle Hilfe ist, seine Angst vor einer vererbten Schizophrenie zu nehmen…
Als junger Mann ist Munch (Alfred Ekker Strande) unglücklich verliebt – aber zum Glück macht es sich der Film nicht allzu leicht, Verbindungen zwischen Unglücken und Werken herzustellen.
Biographische Filme gibt es wie Sand am Meer, die meisten begnügen sich jedoch damit, das Leben eines aus irgendeinem Grund bemerkenswerten Menschen linear nachzuzeichnen. Das bietet Starschauspieler*innen zwar regelmäßig die Gelegenheit, sich mit bloßem Nachahmen eine Oscar-Nominierung zu sichern – und trotzdem kommt dabei oft kaum mehr als ein bebilderter Wikipedia-Artikel heraus. Ganz anders nun Henrik Martin Dahlsbakken, der in „Munch“ mit so viel filmischer und erzählerischer Ambition zu Werke geht, dass man ihn allein dafür schätzen muss – auch wenn er inhaltlich nicht immer ganz das erfüllen kann, was seine inszenatorischen Experimente versprechen.
Das liegt vor allem daran, dass sein Blick auf den Kunstschaffenden allzu sehr dem zwar verführerischen, aber auch arg altmodisch wirkenden Genie-Kult nachhängt: Edvard Munch wird als hochsensibler Geist geschildert, der sich zwischen Genie und Wahnsinn bewegt und für den seine zerrissene Seele Ausgangspunkt seiner Kunst darstellt. Etwas unterkomplex mutet diese Interpretation an, etwas zu schlicht die Linie von den emotionalen Wunden, die der junge Munch erleidet, zu den berühmten Gemälden von blutsaugenden Vampiren oder einsamen Gestalten am Meer. Wobei überhaupt erstaunlich wenig Gemälde zu sehen sind und die Kunst sowie das Schaffen der Kunst praktisch keine Rolle spielen, bis am Ende des Films eine Montage, die im grandiosen Munch-Museum im Hafen von Oslo gedreht wurde, schließlich doch Munchs Werk selbst in den Fokus rückt.
Auch mit dieser Entscheidung versucht sich Dahlsbakken noch weiter von konventionellen Künstler-Biographien abzugrenzen, in denen sonst gerne Hände in Nahaufnahme gezeigt werden, die Farbe auftragen, der wilde Pinselstrich den Schaffensprozess andeutet. Auch Daten gibt es keine, nur ein paar Ortsangaben verraten, dass die Handlung gerade in Oslo, Kopenhagen oder Berlin spielt. Aber was für ein Berlin: Über die Oberbaumbrücke geht Munch da, sein Handy klingelt, in einer Kreuzberger Kneipe trinkt er Bier, trifft Freunde auf dem Kollwitzplatz, wirft Pillen ein und feiert in einer verfallenen Fabrik zu Techno-Klängen. Diese in der Gegenwart spielende Episode ist deutlichstes Zeichen von Dahlsbakkens Versuch, die Form aufzubrechen, Munchs Leben und vor allem seine künstlerische Haltung mit dem Heute zu verbinden.
In Wirklichkeit sollte Munch 1891 in Berlin ausstellen, doch die Show wurde abgesagt: Zu unfertig wirkten Munchs Gemälde, zu radikal für den Zeitgeist. Und gegen den Zeitgeist wettert auch Dahlsbakken, der Munch einen langen Monolog in den Mund legt, in dem dieser gegen die Konventionen der Gegenwart agitiert, gegen die Bourgeoisie, gegen allzu sichere Kunst, die von Beamt*innen in Förderinstitutionen finanziert wird, die eigentlich keine Ahnung von Kunst haben und nur das gut finden, was in den Sozialen Medien vermarktbar ist. Solch radikale Ansichten hatte auch Munch, der seine oft unfertigen Gemälden teilweise erst Jahre oder sogar Jahrzehnte später vollendete (und manchmal gar in Ausstellungen noch Pinselstriche veränderte). So eine künstlerische Radikalität will offenbar auch Dahlsbakken mit seinem „Munch“-Film erreichen. Wer sich so weit aus dem Fenster lehnt, so sehr gegen das vermeintlich Sichere und Konventionelle stellt, macht sich jedoch auch besonders leicht angreifbar.
Im hohen Alter wird Munch von der Schauspielerin Anne Krigsvoll verkörpert.
Der Versuch, eine Biografie in verschiedenen Kapiteln mit unterschiedlichen Darsteller*innen zu erzählen, erinnert an Todd Haynes Bob-Dylan-Film „I’m Not There“, der ebenfalls unterschiedliche Bildformate verwendete. Auch „Munch“ variiert hier, ist meist in farbigem Scope gefilmt, die Episode in der Nervenklinik aber in schwarz-weiß und dem klassischen 4:3-Format. Das Ergebnis ist ein ambitionierter biographischer Film, der sich seinem Subjekt in verschiedenen Phasen seines Lebens nähert, aber bewusst auf konkrete biographische Details verzichtet – die könnte man schließlich auch problemlos bei Wikipedia nachlesen, dafür braucht man sich keine Kinokarte lösen. Was allerdings eine Internetseite nicht kann, schafft dieser Film über weite Strecken: Die Seelenzustände von Edvard Munch zu evozieren, anzudeuten, warum gerade dieser Künstler Gemälde malte, die zu den bedeutendsten der Kunstgeschichte zählen.
Fazit: In seiner auch formal ambitionierten Kinobiographie „Munch“ verzichtet Henrik Martin Dahlsbakken weitestgehend auf das Abhaken biographischer Details und nähert sich dem norwegischen Künstler Edvard Munch stattdessen auf verschlungenen Pfaden, die sich am Ende zu einer gelungenen, weit über einen bloßen Wikipedia-Artikel hinausgehenden Annäherung an den Maler hinter dem weltberühmte „Schrei“ verdichten.