Mein Konto
    A Tale Of Filipino Violence
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    A Tale Of Filipino Violence

    Ein monumentaler Kino-Roman

    Von Janick Nolting

    Das Kino von Lav Diaz birgt etwas Zwanghaftes, Getriebenes. Immer wieder taucht der vielfach, unter anderem mit dem Goldenen Löwen preisgekrönte Filmemacher („The Woman Who Left“) in philippinische Gewaltgeschichten ein und kehrt zu den selben düsteren Diagnosen zurück. Er bohrt in Wunden, die nicht verheilen wollen. Alte Geister wollen einfach keine Ruhe geben. Ihnen zuzuhören, dafür nimmt sich Diaz bekanntlich jede Menge Zeit. Sein längster Film „Evolution Of A Filipino Family“ dauert fast elf Stunden und auch sein neues Werk „A Tale Of Filipino Violence“ stellt mit sechs Stunden und 49 Minuten allein bezüglich seines enormen Umfangs eine ordentliche Herausforderung dar.

    Mit „Servando Magdamag“ hat der Regisseur zum ersten Mal eine Fernsehserie geschrieben und inszeniert, basierend auf der gleichnamigen Kurzgeschichte von Ricardo Lee. Aus dem gedrehten Material der angekündigten achtteiligen Serie ist nun zugleich dieser Film namens „A Tale Of Filipino Violence“ entstanden, der noch vor dem Start der TV-Serie erscheint. Lav Diaz bietet damit also die Gelegenheit, seinen erzählten Stoff auf zwei ganz verschiedene Weisen zu erleben.

    In „A Tale Of Filipino Violence“ wird nicht nur das Schicksal einer Familie, sondern das eines ganzen Landes aufgearbeitet.

    Als „Sine Novela“ ist der Film untertitelt. Ein Filmroman. Und was für einer! Einen üppigen Schinken hat Lav Diaz da (mal wieder) auf die Leinwand gebracht. Fast sieben Stunden benötigt man für diesen Mix aus Historien-Epos, Melodram und kunstvoller Parabel wie gesagt. In atmosphärisch dichten Bildkompositionen und mit einer Vielzahl an Handlungssträngen verfolgt er die Abgründe einer wohlhabenden philippinischen Familie, die in ihre Einzelteile zerbricht.

    Das Familienoberhaupt liegt im Sterben. Servando Tres (Bart Guingona) hat sich im Errichten seines Vermächtnisses zahlreiche Vergehen erlaubt und ist doch immer wieder davongekommen. Mit dem drohenden Tod des Patriarchen steht die Familie nun jedoch am Scheideweg. Servando Monzon VI (John Lloyd Cruz) soll die Geschäfte des Klans und der Hazienda übernehmen. Doch er hadert mit dem Familienerbe und dem politischen System, mit dem er kooperieren soll. Die grausame Vergangenheit seiner Sippe will nicht ruhen…

    Beklemmendes Porträt der Marcos-Ära

    Lav Diaz schaut einmal mehr auf die Diktatur von Ferdinand Marcos in den 1970er-Jahren. Sein Gesellschaftspanorama erstreckt sich über Gutsbesitzer, Mörder, Prediger, Ausgestoßene, Arbeiter und brutale Militärs. In grotesken Bildern tauchen bewaffnete Soldaten als Fremdkörper in den Landschaften auf, um Kommunisten und Rebellen zu jagen. Es ist ein markanter Wendepunkt im Film. Eine Flucht aus dieser ideologischen Welt, etwa in die Religion, zeigt Diaz nur als parallele Sphäre fataler Machtstrukturen. Gleich zu Beginn übt ein Mann, der in einer Sekte aufgewachsen ist, grausame Rache an seinem Vater. Die titelgebende Gewalt nimmt hier verschiedene Gestalten an.

    Von zentraler Bedeutung ist dabei, wie gewohnt, die überwältigende Dauer. Wenngleich verhältnismäßig viel passiert und jede Menge Charaktere mit Substanz versehen werden müssen, will die Zeit kaum verrinnen in den über 400 Minuten. Man muss sie – wie viele Werke des Regisseurs – durchstehen. Und doch entfalten sie gerade darin ihre Kraft: im Nachempfinden und Durchleiden einer erstarrten Übergangsphase, die sich wie Fesseln über die Figuren legt. Die Zeit selbst ist es, die auch in diesem Lav-Diaz-Drama miterzählt.

    Was ihm dabei wieder besonders eindrucksvoll gelingt, ist sein komplexes Historisieren. Das bedeutet: Gegenwart und Vergangenheit in einem Austausch zu begreifen, Zeit in verschiedene Richtungen zu denken. „A Tale Of Filipino Violence“ kapselt seine vergangene Epoche nicht einfach als warnendes Anschauungsbeispiel ab. Seine Zustandsdiagnose der philippinischen Gesellschaft lässt das Gestern auch in die Gegenwart und Zukunft hineinsprechen und umgekehrt. Sie betreibt Ursachenforschung und sucht Verbindungslinien.

    Unheilvolle Visionen

    In der Figur des sterbenden Patriarchen entschwinden frühere Vergehen, die der Protagonist Servando nun aufzuarbeiten versucht. Sein zermürbtes Unterbewusstsein greift dabei auch nach der Form dieses Films. Dokumente aus dem 16. Jahrhundert, die Servando liest, zeugen von gewalttätigem, fortdauernd wirkendem Kolonialismus. „Ein niemals endender Albtraum“, wie Servando raunt. Immer wieder schummert das gespenstische Bild eines brennenden Hauses auf, dazu erklingt ein Wimmern. Und ein Sinnbild von Servando selbst, wie er im Gewitter auf einem Floß umhertreibt und doch nie das Ufer erreicht.

    Zwischendrin stimmen Figuren in den malerischen Schwarz-Weiß-Tableaus klagende Gesänge an – Diaz schlägt hier noch einmal eine Brücke zu seinem Musical-Experiment „In Zeiten des Teufels“. Solche Abschweifungen, Pausen und Spielereien bringen „A Tale Of Filipino Violence“ zwar andauernd zum Stillstand, bereichern dessen verzweigtes Bild einer Untergangsstimmung aber ungemein.

    Servando Monzon VI (John Lloyd Cruz) zerbricht langsam aber sicher an der Schuld, die ihm seine Vorfahren hinterlassen haben.

    Bei der finalen Pointe ist im Familienkosmos nichts mehr zu retten. Er ist von innen verfault, erkennt sich und seinen Grundbesitz als kleines Zahnrad einer großen Maschinerie. Er formt die äußeren Umstände mit und erliegt zugleich machtlos ihren Strukturen. In dieser Verflechtung zeigt Diaz seine ganz eigene Vision einer Seifenoper. Etwa wenn er im Tischgespräch enthüllt, wie denn nun die parallel erzählte Geschichte eines Mörders (ebenfalls gespielt von John Lloyd Cruz) mit der übrigen Handlung zusammenpasst. Allerlei abstruse Verwicklungen und Geheimnisse müssen da erörtert werden. Solche Momente glänzen am ehesten mit trockenem Humor, um die eigene Tristesse erträglicher zu gestalten.

    Lav Diaz setzt auf vertraute Formeln

    Die Frage ist nur, ob sich Lav Diaz‘ Filme in ihren immergleichen Schleifen so langsam etwas erschöpfen. Sie faszinieren weiter mit unverkennbarer, eigenwilliger Formensprache, doch ihre ausweglose, bleierne Schwere lässt inzwischen eine gewisse Routine erkennen. Vielleicht liegt ihre Zukunft ja tatsächlich eher im Raffen und Verdichten, wie es dem Regisseur so brillant in dem ebenfalls 2022 uraufgeführten und „nur“ halb so langen „When The Waves Are Gone“ gelungen ist?

    Andererseits lebt Lav Diaz‘ Filmographie genau von solchen Wiederholungen, Zyklen, Echos, offenen Enden, die sich anderswo in ähnlicher Form fortsetzen und nach einer Erlösung suchen. Ein verheerendes Unwetter kündigt sich hier an. Es wartet nur darauf, sich über der trostlosen Welt zu entladen, die der Filmemacher porträtiert. Diaz hat solche Naturphänomene schon mehrfach als Spiegelbilder benutzt. Einer von vielen Punkten, an denen seine Geschichten in einen Dialog treten und gleichermaßen verzweifeln wie Hoffnung schöpfen. „I keep longing“, sind dann auch die passenden letzten gesungenen Worte in diesem Film. Ich sehne mich weiterhin.

    Fazit: Lav Diaz gelingt mit diesem Siebenstünder erneut ein mitreißender Spagat zwischen aufklärender Geschichtsstunde und sinnlich fordernder Kinoerfahrung. „A Tale Of Filipino Violence“ entlarvt über ein Familienerbe die Schattenseiten eines ganzen Landes.

    Wir haben „A Tale Of Filipino Violence“ im Rahmen des Filmfest Hamburg 2022 gesehen.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top