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    I Saw The TV Glow
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    I Saw The TV Glow

    Wer "Buffy" & Co. geliebt hat, muss dieses Meisterwerk unbedingt sehen

    Von Kamil Moll

    „The Pink Opaque“ ist eine 1985 in den USA erschienenen Compilation der schottischen Dream-Pop-Band Cocteau Twins. Darauf ist etwas zu hören, was im Angebot der amerikanischen College-Rock-Radios jener Zeit neu und unerhört war: ein weicher, in massiven Hall getauchter Sound, Gitarren, die nicht Riffs und Rhythmus produzieren, sondern warme, unklare Rückkopplungen, über die eine weibliche Stimme kaum verständliche, teil nicht mal einer wirklichen Sprache entspringende Worte singt. Für viele Teenager*innen muss dieser Klang eine Initiation gewesen sein, ein Portal in eine ungekannte Empfindungswelt …

    … und in Jane Schoenbruns meisterhaftem Coming-of-Age-Fantasy „I Saw The TV Glow“ findet dieser Sound Jahrzehnte später einen neuen Wiederklang: „The Pink Opaque“ heißt hier eine fiktive Fernsehsendung, die in den 1990ern samstagnachts ausgestrahlt wird – und nach und nach immer mehr mit der realen Welt zu verschwimmen scheint. Um sie herum entspinnt sich eine Teenage-Horror-Geschichte, die für zwei Jugendliche, Owen (Justice Smith) und Maddy (Brigette Lundy-Paine), zu einer Tür hinaus aus den eng definierten Grenzen ihrer Kleinstadt und High School wird.

    Owen (Justice Smith) und Maddy (Brigette Lundy-Paine) würden niemals eine neue Folge ihrer Lieblings-TV-Serie verpassen. A24
    Owen (Justice Smith) und Maddy (Brigette Lundy-Paine) würden niemals eine neue Folge ihrer Lieblings-TV-Serie verpassen.

    Magst du Mädchen oder magst du Jungs, wird Owen von Maddy gefragt, der darauf keine eindeutige Antwort weiß: „I Like TV Shows.“ Für 16-Jährige kann Popkultur alles sein, ein Hilfsmittel, ein Verführungsobjekt, das einem neue Möglichkeiten anbietet, auf so etwas wie die eigene Identität und Sexualität zu blicken, das einem aber auch erklären kann, dass diese Identität nichts Festes, Abschließbares sein muss. So richtig verständlich und sichtbar wird das vielleicht aber auch erst im Rückblick. Zu Beginn des Films erzählt Owen davon, wie er Jahre später, längst ein erwachsener Mann, die Serie wiedersieht und all die prägenden Elemente der Erzählung plötzlich auf ihn kindisch und kitschig wirken.

    Was bleibt und wiederkommt, ist die Erinnerung daran, wie das Schauen der Serie in sein Leben eingriff und es sanft veränderte: die Nächte, in denen er sich unter einem Vorwand (sein Vater wird mit unnachahmlicher Kälte vom Limp-Bizkit-Sänger Fred Durst gespielt) zu Maddy schleicht, um die aktuelle Folge sehen zu können, all die einsam und heimlich vor dem Fernseher verbrachten Nachmittage, an denen er auf Video alte Folgen wieder und wieder schaut, als seien es heilige Schriftrollen, die entziffert gehören.

    Eine Buffy für die neue Generation

    Die Art, wie beide Figuren gezeichnet und gespielt werden, markiert einen klaren Unterschied (nicht zuletzt trennt die beiden ein Altersunterschied von zwei Jahren, während der Jugendzeit die Dauer eines Menschenalters), der aber nicht starr bleibt: Justice Smith („Dungeons & Dragons: Ehre unter Dieben“) verkörpert Owen als ängstlich, seine Stimme hat etwas Klangloses und Gedämpftes, als ob darin bloß nichts Intimes mitschwingen solle.

    Brigette Lundy-Paine („Amelia’s Children“) wiederum macht aus Maddy womöglich eine neue Ikone des zeitgenössischen Teenagerfilms: Wie sie Sätze nicht zu Ende spricht, sondern verächtlich geradezu auszischt, mehrdeutig lesbar bleibt zwischen Popstar-Crush, queerem Verlangen und einem immer fluideren Selbstverständnis ihres eigenen Geschlechts, beweist aufs Neue, wie notwendig das Coming-of-Age-Genre immer wieder altbekannte Stoffe und Motive variieren muss und wie frisch das wie eben auch in diesem Fall immer noch wirken kann.

    Der Ice-Cream-Truck ist längst nicht das einzige ikonische Element des Teen-Horror-Genres, das in „I Saw The TV Glow“ auf kreative Weise neu verhandelt wird. A24
    Der Ice-Cream-Truck ist längst nicht das einzige ikonische Element des Teen-Horror-Genres, das in „I Saw The TV Glow“ auf kreative Weise neu verhandelt wird.

    Auf eine sehr genaue und empfindsame Weise, wie sie mittlerweile selten geworden ist in Jugendfilmen, ahmt Jane Schoenbrun dabei die popkulturellen Produkte einer vergangenen Zeit nach: Joss Whedons „Buffy – The Vampire Slayer“ wird z.B. für alle, in deren Jugend diese Serie eine zentrale Rolle gespielt hat, auf vielschichtige Weise belehnt und fortgeschrieben. Die für die Story des Films überlebenswichtige Horror-Fantasy-Serie über zwei Mädchen, die mithilfe einer übersinnlichen psychischen Verbindung gegen albtraumhaft-sinnbildliche „Monster der Woche“ kämpfen, besitzt den täuschend echten Look und die grobkörnige Textur von auf VHS dutzendfach durchgenudelten Fernsehproduktionen der späten Neunziger. Und auch deren vielsinniges Bedeutungsangebot, dem sich Schoenbrun mit viel Ehrfurcht und Stilgefühl nähert.

    „I Saw The TV Glow“ ist auch darin nicht weniger als ein neues „The Pink Opaque“ für das Jahr 2024: Ich wünschte, ich wäre wieder 16 Jahre alt, dann würde dieser Film meine ganze Welt umfassen.

    Fazit: Mit „I Saw The TV Glow“ ist Jane Schoenbrun ein moderner Coming-of-Age-Klassiker zwischen vielschichtiger Horrorgeschichte und tief empfundenem Jugenddrama gelungen.

    Wir haben „I Saw The TV Glow“ im Rahmen der Berlinale 2024 gesehen.

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