Es einfach versuchen
Von Patrick FeySchon der große Soziologe Niklas Luhmann sagte es einst: „Kommunikation ist unwahrscheinlich.“ Entsprechend dieses Sinnspruchs erscheint die Frage, die Kai (Liao Kai Ro) zu Beginn von „Sleep With Your Eyes Open“ stellt, allemal angemessen: „Glaubst du, dass du die Menschen, die du übersetzt, tatsächlich verstehst?“, fragt die taiwanesische Protagonistin mit skeptischem, wenn auch aufrichtigem Interesse. Sie befindet sich am Strand der brasilianischen Küstenstadt Recife und nippt am ersten Caipirinha ihres Lebens, den ihr Gegenüber — ein Spanisch-Deutsch-Übersetzer — ihr soeben spendiert hat.
Erwartet hatte sie beim ihr unbekannten Wort Caipirinha eigentlich eine Mahlzeit. Es ist Kais erster Abend in Brasilien. Das Flugzeug hatte sie unmittelbar bestiegen, nachdem ihr Freund am Telefon schluss gemacht hat. „Ich denke, den Versuch ist es wert“, erwidert ihr der argentinische Übersetzer an der Strandbar, „selbst wenn es scheitert“. Gewissermaßen lässt sich so auch der künstlerische Ansatz beschreiben, den Nele Wohlatz in ihrem faszinierenden zweiten Solo-Spielfilm verfolgt: Sie priorisiert den bloßen Versuch des einander Verstehens angesichts einer schwer zu überkommenden Sprachbarriere gegenüber dem tatsächlichen Gelingen.
Es ist wohl kaum zu weit hergeholt, in diesem flüchtigen Auftritt des namenlosen Argentiniers eine Variation Wohlatz‘ zu erkennen, verweist er doch sowohl auf den biografischen Hintergrund der gebürtigen Hannoveranerin, die immerhin zwölf Jahre in Argentinien lebte, als auch auf die sprachlichen Dimensionen ihres Drehbuchs, das die Regisseurin 2018 in Buenos Aires begann, auf Spanisch zu verfassen. Und das sich als eben solch ein Versuch, es dennoch zu versuchen, verstehen lässt. Schließlich unterlief das Skript in der Folge mehrere Phasen, in denen die Mitglieder des internationalen Schauspiel-Ensembles — manche mit, manche ohne Film-Erfahrung — ihre Zeilen selbst in ihre Sprache übersetzen mussten. Was hier übrigens nicht nur Nationalsprache heißt, sondern auch Idiolekt: in die für sie natürlichen Formulierungen. Wohlatz musste ihnen dabei bis zu einem gewissen Grad vertrauen, besonders da, wo sie der Sprache nur wenig (Brasilianisch) oder gar nicht (Mandarin) mächtig war.
Dieser Hintergrund ist durchaus nicht unerheblich, um sich den zentralen Motiven in „Sleep With Your Eyes Open“ zu nähern, fußt Wohlatz‘ filmische Konzeption doch sehr auf dem Aufeinandertreffen der Menschen, der Sprachen, der Räume, der ökonomischen Hintergründe und — etwas grobschlächtiger ausgedrückt — der Kulturen. Auf diese Weise entstand auch ihr Solo-Debütfilm „El Futuro Perfecto“, in dem ihre gute Freundin Xiaobin Zhang, die sie in einem Spanisch-Sprachkurs in Buenos Aires kennenlernte, die Hauptrolle spielt. Motivisch angelehnt an das Wittgenstein’sche Aperçu, demnach die Grenzen unserer Sprache die Grenzen unserer Welt festlegen, malt sich die chinesische Immigrantin Xiaobin dort verschiedene Zukunftsszenarien aus, die zunehmend fiktional ausschweifender werden. Das Futur Zwei, wie sich dieser Titel übersetzen ließe (also eine abgeschlossene Zukunft, die dem Künftigen eine gewisse Verbindlichkeit zuspricht), steht dort sinnbildlich für eine Perspektive, die sich erschlossen werden kann.
Dass es in „Sleep With Your Eyes Open“ mit einer solchen Perspektive zunächst nicht allzu weit her ist, zeigen bereits die Anfangsminuten, als Kai nach der telefonischen Trennungsnachricht ihres Freundes ihr Handy ins Flughafen-Klo fallen lässt. Und als ihr, in ihrer Urlaubsdestination Recife angekommen, ein Straßenverkäufer eines seiner Armbänder aufzudrängen versucht, und sie, ihre Gunst ersuchend, danach fragt, ob sie Japanerin sei. Wenig später versucht sie, Sonnencreme auf ihr Gesicht aufzutragen, doch dort vermischt sich diese mit den ihr hinunter kullernden Tränen.
Je mehr Zeit Kai allerdings in Recife verbringt, desto mehr scheint ihr Aufenthalt an der brasilianischen Küste dieses unglückseligen Zufalls enthoben. Dies deutet sich bereits auf der Sprachebene an, kann doch „Recife“ auch als „Kai“ — im Sinne von ‚Hafenufer‘ — übersetzt werden. Es ist nicht überliefert, ob Wohlatz sich dieser semantischen Doppelung bewusst war, insbesondere, da ihre Figuren oft den Namen der sie Schauspielenden beibehalten (wie im Falle Liao Kai Ros). Und doch fügt sich dieses winzige Element harmonisch ein in das brüchige Motiv der Vorbestimmtheit, das sich in Folge der Geschichte entspinnt.
Bald schon lernt Kai einen chinesischen Regenschirmverkäufer namens Fu Ang (Wang Shin-Hong) kennen, der sich mit seinem Geschäft bestens auf die anstehende Regensaison vorbereitet sieht. Dass es mit dieser Begegnung mehr auf sich hat, wird dadurch deutlich, dass wir, wenn Kai schon längst mit einem Regenschirm in den Händen verschwunden ist, bei Fu Ang verweilen: erst bei seinem kleinen Laden, dann in seinem noch kleineren Zimmer, das kaum mehr als zwei Betten zu fassen weiß. Der Regen bleibt indes aus, und als Kai bald schon zum kleinen Laden zurückkehrt, ist Fu Ang, mitsamt seiner Schirme, bereits verschwunden. Zurück lässt er eine Kiste voll mit Postkarten, die Kai vom Eigentümer überlassen werden.
Die oberste von ihnen ist auf Mandarin und an Fu Ang adressiert, geschrieben von einer Frau namens Xiao Xin (Chen Xiao Xin), in der sie erklärt, dass die restlichen Postkarten, geschrieben auf Spanisch, von ihrer Zeit in Recife erzählen. Wie eine Zeitkapsel setzen diese Postkarten Kai mit Xiao Xin auf unwissentliche Weise in Verbindung und eröffnen uns auf äußerst elegante Weise die Binnenhandlung rund um Xiao Xin als eine zweite Erzählebene. Was zur Folge hat, dass wir alles, was wir bis zu diesem Zeitpunkt gesehen haben, nun als Rahmenhandlung verstehen müssen.
Beide Ebenen eint die randständige Perspektive: der touristische Blick Kais auf der einen Seite, Xiao Xins migrantische Sichtweise auf der anderen. Primär gefiltert durch die Augen Xiao Xins nähert sich der Film durch subtile Beobachtungen den schwelenden politischen Problemen in und um Recife an, ohne den sozialen Realismus zum Schwerpunkt zu erklären. Auf die Küstenstadt war Wohlatz durch einen Zeitungsartikel gekommen, der von einem Wolkenkratzer berichtet, der ohne behördliche Genehmigung nahe des Strands gebaut worden war, und den Leuten dort—figurativ wie auch wortwörtlich — den Rücken zukehrt. In solch einem Gebäudekomplex, das übergroße Luxus-Lofts anbietet, wohnt die brasilianische Oberschicht, aber eben auch Xiao Xins Tante Lin, eine reiche chinesische Geschäftsfrau. Quasi einquartiert hat diese dort eine Handvoll chinesischer Arbeiter, viele von ihnen ohne Aufenthaltserlaubnis.
Die kleinen Zimmer, die in diesen Apartments bereits in der Architektur als Aufenthaltsräume für das Reinigungspersonal angelegt sind, beherbergen bei Tante Lin nun die diese mittellosen chinesischen Arbeiter. Obgleich Xiao Xin für diese zunächst nur die Nichte Lins ist — wahlweise auch die Cousine von deren Tochter — sind sie es, zu denen Xiao Xin eine Verbindung spürt. Nicht, dass sie dies jemals ausdrücken würde, bleibt sie doch über weite Strecken stumm, arbeitet oft still neben ihnen her mit an Passivität grenzender Unscheinbarkeit. In einer Szene lässt Wohlatz Xiao Xin, wie sie so auf einer Bank sitzt, fast bis zur gänzlichen Transparenz verblassen, doch der visuelle Effekt hält plötzlich ein, kehrt sich um. Wie um zu sagen, dass sich eine menschliche Präsenz und die Spuren, die sie hinterlässt, nicht einfach so auslöschen lassen.
Kontrastiert wird dies durch die Animositäten und die Gewalt, die unter all dem gesellschaftlichen Geflecht immer zu brodeln scheint. In ihrer harmloseren Ausprägung zeigt sich dies, wenn der Aufzug des Luxus-Wohnhauses stoppt und die brasilianischen Anwohner*innen, die den Fahrstuhl zweifellos gerufen haben, angesichts der chinesischen Augenpaare, die sie aus dem Inneren anblicken, davon Abstand nehmen, einzutreten. Weitaus erschütternder ist da das Schicksal Leos, einer der nicht-chinesischen Arbeiter, den es nach São Paulo zieht, um dort sein Glück als Geschäftsmann zu suchen. Nur aus der Ferne, erzählt von einem der Arbeiter, erfährt Xiao Xin und mit ihr wir, dass es nicht lange dauerte, bis Leos Laden überfallen und er dabei getötet worden sei. Die Bedrohlichkeit wird bei Wohlatz nicht ausgeklammert, nicht verschwiegen. Sie erzielt womöglich eine noch größere Wirkung durch die Beiläufigkeit, in der von ihr berichtet wird.
Bei all dem lässt sich „Sleep With Your Eyes Open“, wie schon „El Futuro Perfecto“, als innere Reise verstehen, in der wir, mitsamt Kai, zunehmend in die Geschichte hinabsinken, die Xiao Xin in ihrem Buch (wie sie das Konvolut ihrer Postkarten nennt) festhält. Doch wo sich „El Futuro Perfecto“ an einer Vielzahl von Zukunftsaussichten wagte, ist „Sleep With Your Eyes Open“ vor allem eine Momentaufnahme, die sich in vignettenartigen Beobachtungen fortspinnt. Unterlegt wird das von einer atmosphärischen Soundkulisse, die das scheinbare Urlaubspanorama durch präzise Disruptionen immer wieder hinterfragt. Das Narrativ, das eingangs allzu lose erscheinen mag, erweist sich bei genauerer Betrachtung als intrikate Verflechtung von Einzelschicksalen, die von der Geworfenheit seiner Figuren in eine Welt erzählt, die sich schwerlich überblicken lässt. Die uns aber auch daran erinnert, dass es sich lohnt, es zu versuchen.
Fazit: In „Sleep With Your Eyes Open“ verbindet Nele Wohlatz auf subtile Weise individuelle Schicksale und gesellschaftliche Realitäten, die sowohl die Ungewissheiten als auch die Chancen menschlicher Begegnungen offenbaren.