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    LOLA
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    LOLA

    Wurde der Zweite Weltkrieg durch Zeitreisen entschieden?

    Von Lucas Barwenczik

    Zeitreisefilme handeln oft weder von der Zukunft noch von der Vergangenheit, sondern von dem, was uns in der Gegenwart fehlt. Selbst wenn sie potenziell die ganze Menschheitsgeschichte verändern können, verleihen Zeitmaschinen im Kino vor allem Kontrolle über das eigene Leben. „LOLA“ von Regie-Debütant Andrew Legge ist ein origineller Science-Fiction-Thriller und Found-Footage-Film, in dem große historische Veränderungen und persönliche Fragen ineinandergreifen. Es geht um Weltkriege und Geschwisterliebe, um die Herrschaft über den Planeten und glückliche Paare. Große Ereignisse erzählt mit kleinen Mitteln. Wer durch die Zeit reist, findet in dieser Geschichte nicht nur das Wissen, sondern auch die Empfindungen von Morgen.

    Im Mittelpunkt der Geschichte stehen zwei Schwestern: Thomasina (Emma Appleton) und Martha (Stefanie Martini) haben bereits als Kinder ihre Eltern verloren und leben seitdem in dem heruntergekommenen Anwesen, das ihnen hinterlassen wurde. Thom ist eine geniale Erfinderin, gemeinsam entwickeln sie Ende der Dreißigerjahre eine Maschine namens LOLA (benannt nach ihrer Mutter), die Rundfunk- und Fernsehübertragungen aus der Zukunft abfangen kann. Zunächst tasten sie sich spielerisch durch die Popkultur der Sechziger und Siebziger, verlieben sich in David Bowie, Bob Dylan und die Kinks. Doch als der Zweite Weltkrieg ausbricht, werden sie sich der Tragweite ihrer Erfindung bewusst. Sie beginnen, die Zivilbevölkerung sowie das Militär vor den Angriffen der Luftwaffe zu warnen. Für eine Weile scheint sich das Kriegsgeschehen zu wenden, doch vielleicht hätten sie auch ein paar Science-Fiction-Filme abfangen sollen – auf Dauer gehen solche Eingriffe schließlich selten gut…

    Thomasina (Emma Appleton) hat eine Maschine erfunden, mit der sie Radio- und TV-Signale aus der Zukunft empfangen kann.

    Mit jeder neuen Veränderung steht mehr auf dem Spiel. Irgendwann verändert sich nicht nur der Kriegsverlauf, sondern die Zukunft insgesamt. Die Geschichte der Welt wird zum Puzzlespiel, dessen Teile nicht so recht zusammenpassen wollen. Um das darzustellen, arbeitet Andrew Legge in seinem ersten Spielfilm nicht nur mit selbstgedrehten Szenen, sondern auch mit Archivmaterial. Er schneidet also alte Wochenschauen und Privataufnahmen zwischen die fiktiven Sequenzen und gibt ihnen dadurch eine neue Bedeutung. Ein Historien-Remix, in dem die Clips eingesetzt werden wie Samples in der Rapmusik. Neue Szenen dreht er auf 16mm- und 35mm-Filmmaterial, das er künstlich altern lässt. Es entsteht kein kohärentes Ganzes, man erkennt die Schnittstellen und Übergänge – doch das trägt eher zum handgemachten Charme des Films bei.

    Der ganze Aufbau ist eben auch Teil der Geschichte: Martha, Thomasina und ihre Wegbegleiter dokumentieren ihr Leben und ihre eigenen Experimente. Jede Kamera ist eine Zeitmaschine, denn ein aufgezeichneter Moment kann plötzlich ewig andauern. „Found Footage“ im Doppelsinn also: Der Film besteht zum Teil aus vorgefundenem Material und präsentiert sich, als wäre er selbst gefunden worden.

    Protagonistinnen von Morgen

    Und die erstaunlichen Protagonistinnen sind schon ohne Zeitreisen Frauen von Morgen. Ihre fortschrittlich denkenden Eltern haben ihnen Werte vermittelt, die nicht so recht in das steife Großbritannien der Vierziger passen wollen. Die Popmusik der Zukunft hat ihr Übriges getan, ihnen die Aufbruchsstimmung der Sechziger einzuimpfen. Sie sind selbstbewusst, schlagfertig und lassen sich selbst von den ruppigsten Militärs nichts sagen. Auch wenn sich Martha in den attraktiven Soldaten Sebastian (Rory Fleck-Byrne) verliebt, ist die Beziehung zu ihrer Schwester der emotionale Kern der Geschichte.

    Fast wünscht man sich, noch mehr Zeit mit den beiden zu verbringen. Appleton und Martini spielen quirlig und anrührend miteinander, aber haben stets noch eine dritte Hauptfigur an ihrer Seite: ihre Bolex-Kamera. Die Schwestern sind geprägt durch die Verluste ihrer Kindheit. Von ihren Eltern bleiben ihnen nur noch alte Aufnahmen. Jetzt filmen sie einander unentwegt, so als müssten sie den jeweils andern so vor dem Verschwinden retten. Der Modus „Found Footage“ bringt natürlich immer Fragen mit sich. Etwa: Warum wird hier gerade eigentlich immer noch gefilmt, während eines Fliegerangriffs oder eines Hinterhalts? „LOLA“ liefert mit seiner cleveren Struktur und seinen bildversessenen Protagonistinnen eine der besseren Antworten des Subgenres: Was nicht gefilmt wird, geht für immer verloren.

    Die Schwestern nutzen ihre Erfindung, um vor deutschen Luftangriffen zu warnen – aber die schönste Entdeckung aus der Zukunft ist und bleibt die Musik von David Bowie.

    Mit der Zeit müssen die beiden sich immer komplexere moralische Fragen stellen. Neben den Klassikern des Genres – was darf ich ändern, wen darf ich retten? – geht es auch um weniger Naheliegendes. Was ist etwa, wenn nach einem Eingriff plötzlich David Bowie aufhört zu existieren? Kann man Kunst und Kultur gegen nacktes Leben ausspielen? Abwägungen dieser Art werden auch heute unentwegt getroffen, kulturelle Einrichtungen sind oft die ersten, bei denen in Krisenzeiten gespart wird. „LOLA“ ist unter dem Eindruck der Corona-Krise entstanden, und so geht es oft um die Frage, ob Leben und Überleben wirklich Dasselbe sind.

    Man gewinnt schnell den Eindruck, die Songs von morgen helfen genau so sehr im Kampf gegen die Wehrmacht wie Schlachtpläne und Flottenmanöver. Wenn die Schwestern für ein überraschtes Publikum „You Really Got Me“ von „The Kinks“ performen, wird daraus sofort eine große Widerstandshymne. Die Musik reißt eine ganze Nation mit in die Zukunft. Umgekehrt entsteht durch das Zeitwirrwarr auch faschistischer Elektropop. Das Ergebnis „The Sound Of Marching Feet“ ist schreckliche Propaganda, aber eben auch ein ziemlicher Banger. Lieder dieser Art und auch die restliche Filmmusik stammen aus der Feder von „The Divine Comedy“-Frontman Neil Hannon. Die Songs und untypischen Bilder verleihen einer vertrauten Sci-Fi-Erzählung einen neuen, einzigartigen Rhythmus. Die Friedensaktivistin Emma Goldman wird ein Zitat zugeschrieben, das fast eine Art Motto für „LOLA“ sein könnte: „Wenn ich nicht tanzen kann, ist das nicht meine Revolution.“ Die Zukunft verstehen, indem man sie fühlt.

    Fazit: Ein alter Beat trifft neue Melodien. Mit seinem Regiedebüt erfindet Andrew Legge weder den Zeitreise- noch den Found-Footage-Film neu. Doch sein cleverer, kleiner Thriller hat genug originelle Einfälle, um immer wieder zu überraschen und mitzureißen. Als erster Spielfilm des Regisseurs sicher auch ein Versprechen für die Zukunft!

     

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