84 Minuten Horror – aber kein Schnitt!
Von Christoph PetersenAlfred Hitchcock war 1948 der Erste, der mit „Cocktail für eine Leiche“ einen kompletten Spielfilm so aussehen ließ, als ob er in einer einzigen langen Einstellung gedreht worden sei. Seitdem stellt sich das Publikum solcher sogenannten One-Shot-Filme immer wieder die Frage: Wie haben die das bloß hingekriegt? Viele – wie Alejandro González Iñárritu bei „Birdman“ oder Sam Mendes bei „1917“ – arbeiten wie schon Hitchcock mit versteckten Schnitten. Aber immer wieder wird nach einer ausführlichen Planungs- und Proben-Phase tatsächlich am Stück gedreht – zu den Hits der vergangenen zehn Jahre zählen etwa der deutsche Arthouse-Kultfilm „Victoria“.
Bei „Home Sweet Home - Wo das Böse wohnt“, der seine Weltpremiere beim renommierten Fright Fest in London gefeiert hat, stellt man sich die Wie-Frage zunächst eher noch nicht: Eine hochschwangere Frau schleicht durch ein einsames Haus auf dem Lande – das ist jetzt nicht so schwer zu filmen, auch nicht am Stück. Aber dann überrascht Regisseur Thomas Sieben, der die deutsche Genre-Flagge in den vergangenen Jahren mit „Kidnapping Stella“ und „Prey“ zumindest auf Netflix hochgehalten hat, mit immer mehr Elementen, die man – vor allem mit einer solchen Präzision – in einem One-Shot-Film eher nicht erwartet hätte. Zudem punktet der tatsächlich schnittlos am Stück gedrehte Grusel-Schocker trotz vorhersehbarer Story mit einer zunehmend intensiven Atmosphäre, die in den besten Momenten sogar an die Cthulhu-Stoffe von H.P. Lovecraft gemahnt.
Rechtzeitig zur Geburt ihres ersten Kindes haben die hochschwangere Maria (Nilam Farooq) und ihr Mann Viktor (David Kross) das Landhaus von Viktors Familie geschenkt bekommen. Heute steht der Einzug an – aber weil Victor noch eine wichtige Präsentation halten muss, ist Maria schon mal vorgefahren. So ganz allein in dem großen Haus ist es aber zunächst doch ein wenig ungemütlich – zumal sich der bienenzüchtende Nachbar (Anton Fatoni Schneider) irgendwie seltsam benimmt, der Strom ausfällt und dann auch noch das Baby beginnt, sich im Bauch bemerkbar zu machen.
Auf den telefonischen Rat von Victors Arzt-Vater Wilhelm (Justus von Dohnányi) bleibt Maria erst einmal ruhig. Aber als sie merkwürdige Geräusche aus dem Kellern vernimmt, geht sie der Sache trotzdem nach – und stößt dabei auf einen geheimen Raum, der eine grausame Episode aus der längst vergangenen Familienhistorie ihres Angetrauten offenbart. Aber ist das wirklich nur eine alte, längst vergessene Kamelle – oder sind das womöglich die Geister der Vergangenheit, die sich da gerade in der Gegenwart Verhör zu verschaffen versuchen…
„Home Sweet Home“ braucht ein wenig, um in die Gänge zu kommen. Aber sobald sich die ersten Jump Scares einschleichen, landen diese tatsächlich ziemlich überraschend. Ist ja aber auch kein Wunder, schließlich funktionieren solche Schockeffekte seit jeher auf dieselbe Weise: ein schneller Schnitt, ein lauter Sound – und schon zuckt das Publikum ganz automatisch zusammen. Da ist es fast egal, ob da plötzlich ein messerschwingender Killer oder ein süßes Kätzchen zu sehen ist. Aber in „Home Sweet Home“ gibt es nun mal keine Schnitte – und das macht es für die Macher*innen natürlich sehr viel herausfordernder:
Wenn hier hinter der Protagonistin plötzlich ein Geist vorbeischlurft oder bei einem Kameraschwenk kurz eine mysteriöse Fratze in einem der Fenster auftaucht, lässt sich der gewünschte Effekt nicht einfach mit einem geschickten Schnitt herbeizaubern – stattdessen muss sich Thomas Sieben voll auf das Timing seiner Darsteller*innen, seiner Effekt-Künstlerinnen sowie seines Kameramanns Daniel Gottschalk („Mechanic: Resurrection“) verlassen. Und das klappt ziemlich gut – auch weil die Jump Scares so eben doch ein wenig anders funktionieren als in sonstigen Gruselfilmen. Das dürfte wiederum dafür sorgen, dass sie sogar den einen oder anderen eigentlich längst schockimmunen Genre-Fan erwischen.
Das zweite bemerkenswerte One-Shot-Element sind die fließenden Übergänge zwischen dem realen Geschehen und geisterhaften Rückblenden zu den grausamen Ereignissen einer eigentlich längst vergessenen Ära. So richtig spannend wird „Home Sweet Home“ aber, sobald Maria Besuch von ihrer besten Freundin (Olga von Luckwald) und ihrem sich zunehmend merkwürdiger benehmenden, irgendwann sogar Salz im ganzen Haus verstreuenden Schwiegervater bekommt. Man wünscht sich fast, dass Wilhelm sich als Bösewicht der Geschichte erweisen möge – einfach weil es so viel Spaß macht, Justus von Dohnányi („Das Experiment“) in dieser Rolle zuzusehen.
Fazit: Die Story selbst ist zwar nicht sonderlich originell, aber Thomas Sieben streut immer wieder Elemente ein, die man aus dem One-Shot-Genre so noch nicht kennt – vor allem einige stark getimte Jump Scares hätte man unter diesen Drehumständen so sicher nicht erwartet. Und fast noch wichtiger: Auch dank der starken Leistungen von Nilam Farooq und Justus von Dohnányi kommt richtig Spannung auf!
PS: Um dem immer mal wieder vorgebrachten Vorurteil vom „lahmen deutschen Film“ etwas entgegenzusetzen, hat sich die FILMSTARTS-Redaktion dazu entschieden, die Initiative „Deutsches Kino ist (doch) geil!“ zu starten: Jeden Monat wählen wir einen deutschen Film aus, der uns besonders gut gefallen, inspiriert oder fasziniert hat, um den Kinostart – unabhängig von seiner Größe – redaktionell wie einen Blockbuster zu begleiten (also mit einer Mehrzahl von Artikeln, einer eigenen Podcast-Episode und so weiter). „Home Sweet Home“ ist unsere Wahl für den Januar 2024.