Ein Social-Media-Skandal fast 100 Jahre vor der Gründung von Facebook
Von Gaby SikorskiKurz nach dem 1. Weltkrieg, um 1920 herum, lebten in der englischen Kleinstadt Littlehampton zwei Nachbarinnen, Rose Gooding und Edith Swan. Sie hatten sich angefreundet, nachdem Rose neu zugezogen war. Doch irgendwann war Schluss mit lustig, die beiden Frauen zerstritten sich. Als wenig später Edith und weitere Frauen in Littlehampton obszöne anonyme Briefe erhielten, war allen sofort klar, wer die Schuldige sein musste – Rose Gooding, die Neue. Sie wurde angeklagt, verurteilt und inhaftiert. ABER damit war der Fall noch lange nicht abgeschlossen, denn es gab auch Zweifel an Roses Schuld, und so wurden die Ermittlungen wieder aufgenommen. Diese Geschichte ist wirklich passiert, tatsächlich auch in Littlehampton (West Sussex). Der damalige Skandal erschütterte seinerzeit nicht nur das verschlafene Küstenstädtchen selbst, sondern ganz England.
Der von Brief zu Brief immer pikantere Inhalt der anonymen Epistel war bald in aller Munde und wurde hinter vorgehaltener Hand begierig diskutiert. Das Medieninteresse war für damalige Verhältnisse riesig – die Daily Mail sprach etwa vom „Seaside Mystery“, und trotz der damals im Vergleich eher schütteren Möglichkeiten im Bereich der sozialen Medien waren die Beteiligten bald landesweit bekannt. Bis der Sturm sich endgültig gelegt hatte, vergingen fast zwei Jahre. Aus dieser großartigen Vorlage hat der britische Comedian und Schauspieler Jonny Sweet sein erstes Kino-Drehbuch geschrieben, das nun als „Kleine schmutzige Briefe“ unter der Regie von Thea Sharrock („Ein ganzes halbes Jahr“) verfilmt wurde. Das Ergebnis ist eine entlarvende Provinzkomödie mit grandiosen Frauenfiguren, fantastisch gut gespielt, liebevoll und atmosphärisch in Szene gesetzt.
Littlehampton wird hier zur typischen englischen Kleinstadt, in die kurz nach dem 1. Weltkrieg mit der Ruhe auch das Spießertum wieder eingekehrt ist – hier regiert das Vorurteil, eine gute Portion Bigotterie und Heuchelei ist ebenfalls dabei. Frauen haben hier wenig zu melden, doch ab und an ist ein Hauch von Auflehnung spürbar. Auch durch die anonymen Briefe kommt Bewegung in die träge Gesellschaft. Aber Achtung: Der Film ist weder ein lupenreiner Krimi noch eine Krawallkomödie, der Grundton ist eher zurückhaltend, very British eben. Wenn es witzig wird, was häufig geschieht, dann ist das Ergebnis eher ein leiser Gluckser als ein brüllender Schenkelklopfer. Das liegt an den wunderbar gezeichneten, schrägen Charakteren – einer wie der andere ein Original, auch in den kleinsten Rollen sind echte Typen zu sehen.
Da gibt es dann jede Menge ehrbare Ladys, die aufgrund der höchst pikanten Details in den anonymen Schmähbriefen reihenweise plötzlich vom Stuhl fallen oder dekorativ in Ohnmacht sinken, wenn sie nicht gerade heimlich tuschelnd die schändlichen Inhalte teilen. Doch die ehrbarste von allen ist die fromme Edith Swan (Olivia Colman), eine Stütze der Gesellschaft, zuverlässige Kirchgängerin und gehorsame Tochter, die trotz ihres reifen Alters bei den Eltern wohnt. Ausgerechnet diese brave, biedere Dame ist die am schlimmsten Betroffene. Sie ist sichtbar geschockt angesichts der sich bis ins Absurde steigernden Sprache in den anonymen Briefen, denn die sind nicht nur obszön und ordinär, sondern auch biologisch und anatomisch teilweise durchaus bedenklich.
Allein diese Konstellation ergibt eine wunderbare Fallhöhe, wie gemacht für eine Komödie, doch damit nicht genug: Die an sich schon gelungene Vorgabe wird noch getoppt durch die Person Rose Gooding (Jessie Buckley), in der Verfilmung eine frisch aus Irland zugezogene Single-Mutter mit wenig Neigung zu Haushaltstätigkeiten und einer großen Vorliebe für lästerliche Flüche. Sie verkörpert in den allgegenwärtigen Augen und Ohren der Kleinstadt-Bourgeoisie alles, was verdächtig ist: Migrantin, alleinstehende Mutter mit gottloser Sprache – und dann geht sie auch noch allein in den Pub. Unfassbar! Für praktisch ganz Littlehampton steht fest, dass Rose Gooding die Briefe geschrieben hat. Nur die frisch gebackene Polizistin Gladys (Anjana Vasan) hat Zweifel. Als erste und einzige Frau im Polizeirevier kämpft sie mit Schaf-ähnlicher Geduld um Anerkennung.
Die wackere Polizistin setzt sich mit Witz und Charme an die Spitze der Rebellion gegen die Vorverurteilung von Rose Gooding. Anjana Vasan spielt die Gladys ganz wunderbar und herrlich komisch als aufrechte Frau, die an Gerechtigkeit glaubt. Sie ist ein Wunder an Selbstbeherrschung in ihrem leisen Kampf gegen die männliche Übermacht. Im Mittelpunkt der Handlung stehen jedoch ganz eindeutig die beiden so gegensätzlichen Frauen Rose und Edith.
Olivia Colman (Queen Anne in „The Favourite“, Queen Elizabeth II in „The Crown“) spielt hier mit deutlich erkennbarem Vergnügen gegen ihr königliches Image an und schlüpft in die Rolle einer beinahe archetypischen alten Jungfer, die von ihrem tyrannischen Vater (wunderbar widerlich: Hugh Skinner) tyrannisiert wird. Jessie Buckley, die in „Frau im Dunkeln“ ironischerweise bereits die jüngere Version von Olivia Colman verkörpert hat, spielt mit viel Herz und Temperament die Außenseiterin Rose, die alle Konventionen über Bord geworfen hat und sich damit zur Feindfigur für eine dem Untergang geweihte Gesellschaft macht. Da fliegen die Fetzen, bis es irgendwann nur noch am Rande um die Lösung eines Vintage-Kriminalfalls geht – stattdessen stehen plötzlich ganz aktuelle Themen wie Hassrede, Cancel Culture und Vorverurteilungen im Zentrum. Quasi ein Social Media-Skandal, aber schon vor 100 Jahren und mit allen möglichen und unmöglichen Folgen.
Fazit: „Diese Geschichte ist wahrer, als man meinen würde“, heißt es zu Beginn des Films, der sich dank der herausragenden Darstellerinnen Olivia Colman, Jessie Buckley und Anjana Vasan immer stärker in Richtung Charakterkomödie entwickelt. Schon bald geht es nicht mehr darum, dass der oder die Schuldige für die anonymen Obszönitäten gefunden wird, mit denen sich die ehrbare Bevölkerung von Littlehampton herumschlagen muss. Es geht um mehr, nämlich um eine heuchlerische, autoritätshörige Gesellschaft, in der das Vorurteil wichtiger ist als das Urteil.