Wahnsinnig verliebt
Von Christoph PetersenDie Fliege, die immer wieder bedrohlich brummend im Bild herumschwirrt und sich beim ersten „Date“ direkt auf der Stirn ihres Gegenübers niederlässt, hätte ihr eine Warnung sein sollen. Aber Antonina Miliukova (Alyona Mikhailova) ist dem Komponisten Pyotr Tchaikovsky (Odin Lund Biron) mit Haut und Haar verfallen. Dabei nimmt es nach der Trauung, die Kirill Serebrennikov in seiner historischen Anti-Romanze „Tchaikovsky's Wife“ wie die Ouvertüre zu einem Horrorfilm inszeniert, regelrecht komische Züge an, wie sehr sich Antonina der Einsicht verweigert, dass ihr Gatte offensichtlich nur auf junge Männer steht. Liebe macht blind …
… und manchmal auch wahnsinnig! „Tchaikovsky's Wife“ ist kein klassisches Komponisten-Biopic, sondern ein brutaler Abstieg in die totale Selbstzerstörung. Zu Beginn werden zwar Fakten über die Rolle der Frau im Russland des ausgehenden 19. Jahrhunderts als Texttafel eingeblendet – so haben Ehefrauen etwa keinen eigenen Pass, sondern werden nur im Ausweis ihres Gatten mit aufgeführt. Aber auch wenn Antonia von der Gesellschaft keine Hilfe erwarten darf, ist es vor allem sie selbst, die sich einzig und allein als die titelgebende „Frau von Tchaikovsky“ definiert. Und dies, obwohl ihr Angetrauter sich jedes Mal angewidert abwendet, wenn sie auch nur in seine Nähe kommt, geschweige denn, ihn zu berühren versucht.
Antonina Miliukova (Alyona Mikhailova) sehnt sich nach nichts mehr, als endlich ihr Rolle als Frau des Komponisten einnehmen zu können – mit allem, was dazu gehört…
Im Verlauf der 147 Minuten steigert sich zwar ihr Leid, aber nicht ihr Wahn. Der ist von Beginn an da: Gleich beim ersten Gespräch über eine mögliche Ehe droht Antonia mit Selbstmord, als wäre sie die Heldin in einem Tolstoi-Roman. Klar verhalten sich der im Verlauf der Handlung immer mehr zu Ruhm kommende Komponist und noch mehr seine schwulen Kumpels (wenn man „Tchaikovsky's Wife“ nicht geradeheraus eine gewisse Homophobie unterstellen will, dann kurvt er zumindest nur haarscharf an ihr vorbei) wie die totalen Arschlöcher. Aber das Schicksal von Antonia ist da ohnehin längst besiegelt. Sie, die nicht selbst auf ein Konservatorium gehen konnte, ist dem Geniekult verfallen …
… und diese selbstgewählte Reduktion auf die ohnehin nur auf dem Papier bestehende Beziehung zu ihrem Mann wird ihr endgültiger Untergang sein. Den Weg dorthin pflastert Kirill Serebrennikov, der uns vor einigen Jahren noch mit der Leningrader Rockmusik-Liebeserklärung „Leto“ weggeblasen hat, mit erlesenen Bildern, wie sie auch in einem klassischeren Künstler-Biopic nicht verkehrt gewesen wären. Das ist trotz der herausragenden Tour-de-Force-Performance von Alena Mikhaylova („Chiki“) mitunter ganz schön lahm – wenn man schon dabei zusieht, wie Antonia über Jahrzehnte nur einen existenziellen Niederschlag nach dem anderen erleidet, hätte man sich zumindest gewünscht, dass sich der Regisseur gemeinsam mit seiner gebeutelten Protagonistin kopfüber in den (Liebes-)Wahn stürzt.
Aber das geschieht nur in einzelnen Sequenzen, die dann auch als die klar besten des Films herausstechen: Ein weiterer Versuch eines wohlhabenden Gönners von Tchaikovsky, seine Frau endlich zur Einwilligung in eine Scheidung zu bewegen, besteht etwa darin, einen neuen Mann für sie zu suchen – und die möglichen muskelbepackten Kandidaten werden dann auch direkt zur Fleischbeschau vorgeführt, nackter Schaulauf im Handstand inklusive. Auch das Finale, in dem sich das angestaute Leid in einem horrorhaften modernen Tanz Bahn bricht, entwickelt eine (selbst-)zerstörerische Energie, …
… die dem Film auch zuvor schon sehr gutgetan hätte. Selbst eine schwarze Messe, mit der Antonina „ihren“ Pyotr endgültig und für immer an sich binden will, wirkt da noch enttäuschend unspektakulär. So ziehen sich die knapp zweieinhalb Stunden mitunter ganz schön hin – zumal man auch beim selbstzerstörerischen Kampf der Titelheldin emotional weitestgehend außen vor bleibt. Schließlich ist es nicht so, dass man ihr wünscht, dass sie ihr Ziel endlich erreicht. Stattdessen will man ihr vielmehr von Beginn an raten: „Nimm den bloß nicht!“ Und danach: „Schieß den bloß so schnell wie möglich in den Wind!“ Wobei das wiederum auch nicht völlig uninteressant ist: Ein Film mit einer wahnsinnig verliebten Protagonistin, bei der man ihr zuliebe alle Daumen drückt, dass sie den Typen bloß nicht kriegt…
Fazit: „Tchaikovsky's Wife“ ist trotz einiger mutigerer Szenen insgesamt einfach zu erlesen und betulich inszeniert, um dem stetigen und unaufhaltsamen Abstieg seiner von Beginn an verdammten Titelheldin in den höllischen Wahnsinn gerecht zu werden. Offenbar liegt Regisseur Kirill Serebrennikov mit 80er-Jahre-Rockmusik einfach viel mehr auf einer energetischen Wellenlänge als mit den klassischen Kompositionen des legendären Genies hinter Klassikern wie „Schwanensee“ und „Der Nussknacker“.
Wir haben „Tchaikovsky's Wife“ im Rahmen des Cannes Filmfestivals 2022 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.