Von Mathematik, Mah Jongg und dem Segen des Scheiterns
Von Gaby SikorskiWas passiert eigentlich mit einem Menschen, der voller Zuversicht und mit der Gewissheit, genau das Richtige zu tun, von Erfolg zu Erfolg getragen wird, bis …ja: bis irgendwann der Punkt erreicht ist, an dem es plötzlich nicht mehr weiter aufwärts, sondern steil bergab geht? Kluge Sprichwörter beschreiben dieses Problem, wie zum Beispiel: „Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht.“ Aber selbst wenn sich schlichte Gemüter gerne in Schadenfreude ergehen, sobald es um die Misserfolge anderer geht: Generell kann das Scheitern auch positiv betrachtet werden. Für Überflieger*innen ist es interessant zu sehen, wie es sich anfühlt, mal keinen Erfolg zu haben. Für alle anderen gilt, dass man aus den Fehlern, die man macht, eine Menge lernen kann. Und es gibt den Begriff der „Serendipity“ („glückliches Scheitern“), womit unter anderem gemeint ist, dass man auf der Suche nach etwas ganz anderem eine unerwartete neue Erfahrung macht, die sich schließlich als segensreich erweist.
Vom Scheitern und vom Neubeginn handelt auch der schweizerisch-französische Film „Die Gleichung ihres Lebens“ von Anna Novion, in dem das junge Mathematikgenie Marguerite (Ella Rumpf) auf dem Weg zur Dissertation unerwartet Schiffbruch erleidet. Gerade eben war noch alles gut, und dann, von einem Moment zum nächsten, wirft sie die Frage ihres Kommilitonen Lucas (Julien Frison) aus der Bahn. Marguerite erkennt sofort, dass sie einen Fehler gemacht hat. Ihre Reaktion ist unerwartet emotional: Sie schmeißt alles hin und verlässt die Uni. Wie eine ganz normale junge Frau, die sie bisher eigentlich nicht war, sucht sie sich einen Job, und sie zieht mit der Tänzerin Noa (Sonia Bonny) zusammen, einer Zufallsbekanntschaft, bei der gerade die Mitbewohnerin ausgezogen ist.
Zusätzlich vertieft Marguerite ihre eher spärlichen sexuellen Erfahrungen mit einem Mann, den sie mutig auf der Straße anspricht. Doch als sie zum ersten Mal Mah-Jongg-Spieler sieht, springt sofort wieder ihr hoch entwickelter mathematisch-logischer Verstand an. Sie ist auf den ersten Blick begeistert und verdient bald gutes Geld als professionelle Mah-Jongg-Spielerin, die in den illegalen Spielhöllen der Umgebung ein und aus geht. Eines Tages ist Marguerite so weit, dass sie sich wieder ihr Dissertationsthema vornimmt. Aber das ist noch nicht alles: Sie nimmt Kontakt auf mit Lucas, der sie damals aus dem Konzept gebracht hat, und arbeitet fortan mit ihm zusammen.
Hier geht es also um eine junge Frau mit besonderen Talenten, die zunächst einmal großen Nachholbedarf hat, was Normalität betrifft. Bis zu ihrem Scheitern ist Marguerite eine anerkannte Intelligenzbestie, äußerlich betrachtet etwas staksig und unbeholfen, eine Einzelgängerin – also nicht das nette Genie von nebenan, sondern eine Mischung aus Sheldon Cooper und Amy Farrah Fowler. Doch im Gegensatz zur Amy aus „The Big Bang Theory“ möchte Marguerite gar nicht geliebt werden. Es scheint, als sei sie sich selbst genug.
Die Bestrebungen der Regie um eine realistische Darstellung dieser komplexen Persönlichkeit sind deutlich sichtbar. Ella Rumpf („Raw“) spielt sie mit viel Einfühlungsvermögen bis in die kleinsten Gesten. Man nimmt ihr sofort die leicht versponnene Schwerintellektuelle ab. Am Anfang wird Marguerite für die Studentenzeitung interviewt (ein legitimer dramaturgischer Trick, um sich eine langwierige Exposition zu ersparen) und man lernt die Doktorandin als hundertprozentig ernsthafte, etwas in sich gekehrte Studentin kennen, die als einziges Hobby angibt, dass sie mit ihrer Mutter Kniffel spielt. Das ist ein bisschen witzig, aber das war es auch schon beinahe mit dem Humor in diesem Film, der sich rechtschaffen bemüht, Marguerite als Identifikationsfigur zu etablieren, obwohl sie nicht besonders sympathisch ist.
Und genau das ist ein Problem. Wenn Marguerite erstmal in die Normalität eingetaucht ist, klappt das deutlich besser, aber dann ist es eigentlich schon zu spät, und vielleicht will der Funke auch deshalb generell nicht so ganz überspringen. Das liegt nicht an Ella Rumpf – im Gegenteil: Sie verkörpert perfekt einen weiblichen Nerd mit leicht eingezogenen Schultern, einem beinahe steifen Gang und mit nüchterner Zurückhaltung, die sie lediglich ablegt, wenn sie sich leidenschaftlich für die Lösung mathematischer Probleme einsetzt. Ella Rumpf verleiht der Marguerite die perfekte Ausstrahlung einer hochintelligenten, aber gefühlsmäßig und kommunikativ ziemlich unterentwickelten Persönlichkeit.
Dass der Film emotional so wenig auslöst, scheint ein Problem zu sein, das mit der Konstruktion der Geschichte und mit dem Drehbuch zu tun hat. Der Verzicht auf eine ausführliche Exposition bedeutet unter anderem auch, dass es kaum Möglichkeiten gibt, Marguerite als Persönlichkeit kennenzulernen und zu mögen. Stattdessen wird sie im Interview als nüchterne Fachfrau vorgestellt. Das ist schön und gut, aber wie viele Mathematiker*innen sitzen wohl im Publikum, die ihre Leistungen zu schätzen wissen? Zusätzlich wird offenbar vorausgesetzt, dass Marguerite als einzige Frau in ihrem Fach Probleme an der Uni hat. Hier wird also das Klischee nicht einmal direkt bedient, sondern das Wissen um das Klischee wird vorausgesetzt – eine unglückliche Dopplung. Aber selbst wenn es so ist, dass Mathematikerinnen es an der Uni schwer haben: Warum muss sich Marguerite dann wie ein dummes kleines Mädchen verhalten? Wenn sie alles hinwirft, läuft es letztlich darauf hinaus, dass sie offensichtlich beleidigt ist, weil jemand ihren Fehler bemerkt hat.
Darauf reagiert sie alles andere als souverän, sondern sehr unreif, was haargenau die Argumentation ihres Doktorvaters (Jean-Pierre Darroussin) ist. Hätte man Marguerite als liebenswerte Persönlichkeit kennengelernt, bekäme ihr Verhalten eine andere Bedeutung. Man würde mit ihr mitfiebern, wie sie wohl mit dem Fehler umgeht, man würde sie vielleicht sogar bemitleiden, sich für sie fremdschämen und mit ihr hoffen, dass sie einen Weg aus dem Dilemma findet. Sobald sich Marguerite um ein „normales“ Leben bemüht, gewinnt der Film an Fahrt, und nun funktioniert auch das Konstrukt.
Überzeugend ist auch die Bildgestaltung, in der sich Marguerites Entwicklung zeigt. Die Bilder werden immer lebhafter und farbiger, auch die Visualisierung der mathematischen Formeln ist gut gelungen. Wie Marguerite einen Mann anbaggert, wie sie lockerer wird und irgendwann selbst ein bisschen zu tanzen beginnt, wie sie Mah-Jongg spielt und gewinnt, das alles sorgt dafür, dass Marguerite sympathischer wird. Sobald sie aber beschließt, sich wieder der Mathematik zuzuwenden, und dafür den Kontakt zu Lucas sucht, wird es wieder problematisch: Dann bewegt sich der Film plötzlich auf sehr ausgetretenen Pfaden in Richtung RomCom.
Fazit: Ella Rumpf profiliert sich als großartige Charakterdarstellerin in einem Film, der sehr bemüht ist, das ungewöhnliche Schicksal eines weiblichen Mathematikgenies zu zeigen, dabei leider einige überflüssige Klischees bedient und letztlich auf allzu bewährte Versatzstücke zurückgreift. Ob sich dadurch mehr Mädchen und junge Frauen finden, die sich für die MINT-Fächer interessieren, ist zwar wünschenswert, darf allerdings bezweifelt werden.