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    Meanwhile on Earth
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Meanwhile on Earth

    Ein außergewöhnliches Sci-Fi-Experiment

    Von Janick Nolting

    Mit seinem animierten Langfilmdebüt „Ich habe meinen Körper verloren“ schaffte es Jérémy Clapin bis zur Oscar-Nominierung, nun gelingt ihm mit seinem Realfilmdebüt ein frischer Blick auf das Science-Fiction-Genre. Was den menschlichen Verstand übersteigt und in die Tiefen des Weltalls führt, konzentriert er in einem intimen Drama, das mehr suggeriert, andeutet und grübelt, anstatt die Dinge eindeutig zu bebildern und auszuerzählen. Bekannte Genre-Motive werden in „Meanwhile On Earth“ faszinierend neu zusammengesetzt und Clapin ist damit nicht allein. In den vergangenen Jahren haben sich mehrfach etablierte europäische Autorenfilmer*innen an ganz eigenwilligen Sci-Fi-Zugriffen versucht; man denke etwa an Claire Denis’ „High Life“ oder Bertrand Bonellos „The Beast“.

    „Meanwhile On Earth“ reiht sich passend neben solchen Werken ein, die interessante Gegenpole zu konventionellen Materialschlachten und Weltraumopern bilden, wie man sie aus populären Blockbustern kennt. Clapin erzählt irgendwo an der Schnittstelle von Sozialdrama, Mystery-Rätsel, Horrorfilm und Sci-Fi-Elementen. Erzählte „Ich habe meinen Körper verloren“ die Odyssee einer abgetrennten Hand, nimmt sich der französische Regisseur damit erneut der Fragen des Umgangs mit Verlust und Schicksal an. Der Kontakt zu Außerirdischen gestaltet sich dabei als reichlich irritierende Erfahrung, der man in keiner Minute über den Weg trauen kann.

    Mit dem Verschwinden ihres Astronauten-Bruders ist auch das Leben von Elsa (Megan Northam) aus der Bahn geraten. Auvergne-Rhône-Alpes Cinema / One World Films / Carcadice / France 3 Cinema
    Mit dem Verschwinden ihres Astronauten-Bruders ist auch das Leben von Elsa (Megan Northam) aus der Bahn geraten.

    Der Astronaut Franck Martens wurde auf eine Mission ins All geschickt. Man feiert ihn als Held, doch niemand weiß, was mit ihm geschehen ist. Seine Schwester Elsa (Megan Northam) und der Rest der Familie bleiben traumatisiert zurück. Ihr Alltag ist mit dem Verschwinden aus den Fugen geraten. Als Elsa eines Tages auf einem Hügel Kontakt zu einer außerirdischen Entität aufnimmt, scheint sich ihr eine unglaubliche Möglichkeit zu eröffnen: Franck könnte tatsächlich auf die Erde zurückkehren, doch dafür ist ein hoher Preis fällig…

    Wie ein Parasit nisten sich die fremden Stimmen in Elsas Gedanken ein. „Meanwhile On Earth“ wählt dafür das Bild eines Samens, den sich die Pflegerin und Künstlerin quasi als technisches Gadget und Medium ins Ohr steckt und der sich partout nicht mehr entfernen lassen will. Wie besessen streift sie fortan umher, während ihr Außerirdische, die in unsere Welt drängen, hoffnungsvolle wie zermürbende Dinge zuflüstern. Jérémy Clapin inszeniert diese besondere Form einer Alien-Heimsuchung mit stimmungsvoller Bild- und Klangsprache und verträumter Atmosphäre.

    Fremdgesteuert von Außerirdischen

    Quälende Hochfrequenztöne und der flirrende Score von Dan Levy halten das Unbehagen konstant hoch. Die Kamera bleibt die meiste Zeit nah an der Wahrnehmung der Protagonistin, erschafft so eine beklemmende Ausweglosigkeit. Dazu inszeniert Clapin Szenen, in denen der Kamera selbst eine außerirdische Präsenz innezuwohnen scheint. Etwa wenn sie aus luftiger Höhe auf Elsa herabblickt und sie in streng choreografierten Bewegungen durch den Wald leitet, als würde sie die Figur in einem Videospiel steuern.

    Überhaupt ist Fremdsteuerung eines der zentralen Motive des Films. Das meint auch: ein Fremdgesteuertsein durch den Gedanken an den Tod, an das endgültige Verschwinden. Bei ihrer Arbeit im Pflegeheim erlebt Elsa, wie Menschen ihre Identität verlieren, Angehörige vergessen und sterben. Eines Nachts fürchtet sie, eine Leiche am Straßenrand zu entdecken, und dann sind da immer wieder diese Zeichnungen, die Elsa von ihren Mitmenschen anfertigt. Kunst als Mittel, um Charakteren, Biografien, Momenten näherzukommen. Kunst als gefrorene Zeit und Konservierung, während alles vergeht.

    Zermürbende Trauer

    Im Kern ist „Meanwhile On Earth“ ein zutiefst trauriges Werk über eine Welt, die das Trauern verlernt hat. Denkmäler umkreist man wie ein Heiligtum, doch einen Umgang mit der Erfahrung der Abwesenheit findet in all den Routinen aus Beruf und Familie niemand. Man schaut zum Himmel auf, sucht nach Antworten, doch selbst diese Hinwendung zu etwas Höherem bleibt ein hilfloses Unterfangen. Verdammte Straßenlaternen! Früher seien die Sterne nachts heller gewesen, beschwert sich Elsa am Rande der Stadt. Also bleibt nur die Flucht in Erinnerungen und Tagträume, die Jérémy Clapin per Animationstechnik zur Comic-Fantasie verfremdet und so eine weitere, übergeordnete Wirklichkeits- und Fiktionsebene formt.

    Mit jeder Minute lassen sich solche Wahrnehmungsebenen schwerer voneinander trennen. Alltagsrealität, Übersinnliches, Wahnhaftes und dezidiert Künstlerisches stehen in „Meanwhile On Earth“ nebeneinander und zeugen von großer Unzuverlässigkeit und Unsicherheit. Menschen verschwinden von jetzt auf gleich und kehren wie ausgewechselt zurück. Die Fantasie scheint Streiche zu spielen. Welches Tor hat sich dort aufgetan? Welche Macht greift nach uns? Mitunter könnte dieser Film auch als Neudeutung von „Die Körperfresser kommen“ durchgehen, ohne sich als reiner Nachahmer zu präsentieren.

    Nachdenken über den Wert des Lebens

    Letztlich ist jene Verunsicherung typisch für aktuelle Formen postsäkularen Erzählens. Das meint jüngere Erzählweisen, in denen Weltliches und Geistliches als vermeintliche Gegensätze neu verhandelt, hinterfragt oder verschränkt werden. Hintergrund dafür sind verschiedene Wandlungsprozesse und Zuschreibungen, die religiösen Praktiken und Denkmuster im Verlauf der Geschichte erfahren haben. So eröffnet „Meanwhile On Earth“ zwei gleichberechtigte Deutungswelten, die nie eindeutig aufgelöst werden. Einerseits ist er als Allegorie auf einen unverarbeiteten Trauerprozess und als Auseinandersetzung mit menschlicher Sinnstiftung lesbar. Zugleich spielen religiös konnotierte Konzepte wie Wiedergeburt, Transzendenz, das Jenseits und höhere Mächte als Lenker eine tragende, teils gewaltsame Rolle.

    Wenn Jérémy Clapin seine Protagonistin in den Dienst der Außerirdischen stellt, dann entwickelt sich daraus ein erschreckendes Gedankenexperiment. Hätte man die Chance, einen geliebten Menschen zurückzubringen: Wen würde man stattdessen opfern? Bis „Meanwhile On Earth“ in dieser Frage kulminiert und über den Wert eines Lebens nachdenkt, ist ungefähr der halbe Film vorbei. Das Problem sind aber die verbleibenden Minuten, die sich daran anschließen. So faszinierend, unvorhersehbar und einnehmend sich das Szenario anfangs entfaltet, so zäh schleppt es sich irgendwann auf der Zielgeraden entlang.

    Sprechen da wirklich Aliens mit ihr? Oder leidet Elsa womöglich doch nur unter einer Psychose? France 3 Cinema / Carcadice / One World Films / Auvergne-Rhône-Alpes Cinema
    Sprechen da wirklich Aliens mit ihr? Oder leidet Elsa womöglich doch nur unter einer Psychose?

    „Meanwhile On Earth“ scheut in seinem letzten Akt nämlich die Zuspitzung und Eskalation, tritt zugleich in seiner Argumentation und im Nachdenken über seine Themen recht ermüdend auf der Stelle. Der Schockfaktor, den Clapins Film bei einer Konfrontation im Wald im Mittelteil heraufbeschwört, verpufft im weiteren Verlauf. Seine Handlung löst sich stattdessen in etwas abgedroschenen Naturmetaphern, Bildern von Verwesung, Tieren oder einer menschlichen Hand auf, die aus dem Autofenster gehalten wird, um sehnsuchtsvoll den Fahrtwind zu streicheln.

    Wo „Meanwhile On Earth“ schließlich landet, ist zwar auch räumlich ein konsequenter Schlusspunkt für sein Wandeln zwischen allen Sphären und Welten. Zugleich lässt die bemühte Offenheit dieser letzten Szenen nicht nur allerlei Fragezeichen, sondern auch den allzu bitteren Nachgeschmack von verschenktem Potenzial zurück.

    Fazit: „Meanwhile On Earth“ gelingt in seinen besten Momenten ein hypnotisch inszeniertes, verstörendes und Genre-sprengendes Gedankenspiel. In der zweiten Hälfte geht Jérémy Clapins rätselhaftem Film allerdings deutlich die Puste aus.

    Wir haben „Meanwhile On Earth“ im Rahmen der Fantasy Filmfest Nights 2024 gesehen.

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