Die Panikspirale hält so schnell keiner mehr an
Von Jochen Werner„Vorsichtshalber sollten wir davon ausgehen, dass wir alle in Gefahr sind.“ Wenn ein solcher Satz fällt, dann weiß man (jedenfalls im Kino, in der Realität verhält es sich noch einmal anders): Fortan wird nichts mehr so sein, wie es einmal war – oder zu sein schien, denn die Fassaden von Freundlichkeit und Inklusion, die fortan immer rasanter wegbröckeln, waren vielleicht nie so stabil, wie man es gerne glauben wollte. Die titelgebende Feststellung „Wir könnten genauso gut tot sein“ für den ersten abendfüllenden Spielfilm der russisch-deutschen Regisseurin Natalia Sinelnikova ist ziemlich gut gewählt. Im Film fällt er im Anschluss an einen ziemlich nichtigen nächtlichen Zwischenfall in der Hausgemeinschaft St. Phöbus, bei dem ein porzellanener Deko-Engel zerdeppert wird und sonst eigentlich nichts weiter passiert.
Die Bewohner*innen der Hochhausgemeinde jedoch, die sich aus einer offensichtlich dem Chaos anheimgefallenen Außenwelt in diese Gated Community zurückgezogen haben, fühlen sich plötzlich in ihrer Sicherheit bedroht. Sie sehen Eindringlinge und Lücken im häuslichen Sicherheitssystem an jeder Ecke – und schaukeln sich gegenseitig in ihrer Angst vor der unsichtbaren Bedrohung immer weiter hoch. Gegenseitige Kontrolle, Konformitätszwang und Denunziation etablieren sich immer mehr im Mikrokosmos von St. Phöbus. Schließlich wird sogar beschlossen, dass jeder Hausbewohner und jede Hausbewohnerin – abgesehen von denen mit Geburtsrecht – den demütigenden Bewerbungsprozess um einen Platz in der Gemeinschaft noch mal neu durchlaufen muss. Niemand kann sich seines Platzes im Haus und in der Gemeinschaft mehr sicher sein – und bald schon ist die Atmosphäre gesättigt von zunächst angedrohter, dann auch ausgeübter Gewalt.
Anna (Ioana Iacob) weiß, dass es keinen Grund zur Angst gibt – und trotzdem kann auch sie die einmal in Gang gesetzte Panikspirale nicht stoppen.
Hinter Sankt Phöbus, dem titelgebenden Heiligen der Hausgemeinschaft in Sinelnikovas düsterer Sozialdystopie, verbirgt sich ein Beiname des griechischen Gottes Apollon, einer durchaus widersprüchlichen Figur. So ist Apollon in der Mythologie nicht nur der Gott des Lichts und der Heilkunst, sondern auch der Pestbringer, der die Seuche im Trojanischen Krieg mit vergifteten Pfeilen ins Lager der Griechen schoss. „Wir könnten genauso gut tot sein“ ist natürlich ein Film über das Coronavirus – und mehr noch über den sozialen Umgang damit, darüber, was Angst mit einer Gemeinschaft macht. Anstatt den Bezug in einer diskursiv etwas ungefährlicheren Vagheit zu belassen, verzerrt Sinelnikova den kontemporären Kontext mittels dieser ziemlich eindeutigen Chiffre zur Kenntlichkeit. Dafür ist ihr zu danken – denn die Mobbing- und Exklusionsmechanismen, die sie hier analysiert, sind keineswegs nur zeitlos und allgemeinmenschlich, sondern gerade gegenwärtig hochaktuell.
„Das Gefühl von Sicherheit ist ebenso wichtig wie die Sicherheit selbst“, so heißt es einmal im Film – und deshalb sei es sicher besser, vorerst einmal einfach weiterzumachen mit den Maßnahmen gegen die gefühlte Bedrohung und der Suche nach dem Täter oder der Täterin. Was aber, wenn es gar keine Täter*innen gebe, entgegnet die Sicherheitsbeauftragte Anna (Ioana Iacob), eine polnische Jüdin, mit deren Einzug sich die Hausgemeinschaft erklärtermaßen ihren inklusiven, multikulturellen Charakter beweisen wollte. Sie bekommt zur Antwort, es gebe doch immer irgendeinen Täter oder irgendeine Täterin – und wenn doch nicht, dann mache man halt einfach trotzdem so lange immer weiter, bis sich alle wieder sicher fühlen.
Natürlich funktioniert das so nicht, und eines führt zwangsläufig zum anderen, immer wieder. Angst führt zu mehr Angst – und je mehr Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden, desto unsicherer fühlen sich alle. Anna, die als einzige im Besitz der Wahrheit über den nächtlichen Zwischenfall ist, wagt es nicht, diesen aufzuklären – wohl aus Angst, selbst ins Fadenkreuz des Mobs auf der immer hysterischeren Suche nach einem Sündenbock zu geraten. Zwar gerät sie trotzdem immer weiter ins Abseits durch ihre vergeblichen, kassandrahaften Versuche, als eine Stimme der Vernunft der grassierenden Panik entgegenzutreten, die die Bewohner*innen mehr und mehr dazu bewegt, sich im Haus zu verbarrikadieren und das Draußen zu meiden.
Der gesellschaftliche Prozess, den Sinelnikova hier recht eindrücklich vorführt, ist von einer letztlich fatalen Dynamik der Verselbstständigung geprägt: Immer rasanter und immer gewaltsamer zieht sich eine Spirale um diejenigen zusammen, die, aus welchen Gründen auch immer, ins Visier des Mobs aus einstmals guten Nachbarn geraten – und es wird immer klarer, dass sich niemand angesichts der gefühlten Bedrohungslage seines Platzes in der Mitte der Gesellschaft noch allzu sicher sein sollte. Und natürlich sind es auch immer wieder dieselben, die zuvorderst den Argwohn der Hochhausgemeinschaft auf sich ziehen: Migranten, Prekäre, die an der Peripherie – und am Ende, auch daran lässt Sinelnikova wenig Zweifel, dann auch immer wieder die Juden.
Die vermeintlich paradiesische Hochhausgemeinde St. Phöbus entpuppt sich bei näherer Betrachtung immer mehr als totalitärer Albtraum.
Auch die Protagonistin Anna ist kaum als eine Heldin zu betrachten, selbst wenn wir die Eskalationen in „Wir könnten genauso gut tot sein“ weitgehend durch ihre Augen erleben, mit ihr im Besitz der Wahrheit über die folgenreiche Nacht sind und durchaus mit ihren vergeblichen Versuchen einer Eindämmung der unaufhaltsamen Angstepidemie mitfiebern. Aber letztlich ist auch Anna nur eine Mitläuferin, die zum bitteren Ende aus nackter Angst um die eigene Haut tatenlos zuschaut, wie der Mob einen Unschuldigen ans Messer liefert.
Ihre Hoffnung jedoch, dass im Anschluss alles wieder so sein könnte, wie es zuvor war, wird zwangsläufig enttäuscht werden – denn Panik und Hass sind, einmal entfesselt, nicht so leicht wieder zu zähmen. „Es muss erst noch alles so werden wie früher, und darum handeln wir wie geplant.“ Ein neuer Plan hat sich entwickelt, eine neue oder vielleicht auch sehr alte Struktur aus Macht, Ressentiment und Repression ist etabliert – und davor schützt alle Assimilation dieser Welt nicht…
Fazit: „Wir könnten genauso gut tot sein“ ist formal alles andere als ein Meisterwerk, seine Inszenierung wirkt oftmals hölzern, die Dialoge aufgesagt. Und trotzdem entwickelt er eine Dringlichkeit, die sich aus einer schonungslosen Analyse sehr gegenwärtiger Fragen speist. Dass auf der Berlinale im Februar 2022 bessere Filme ihre Premieren feiern werden, ist sicher. Dass sich darunter auch noch zeitgemäßerere Filme finden, muss sich hingegen erst noch zeigen…
Wir haben „Wir könnten genauso gut tot sein“ im Rahmen der Berlinale 2022 gesehen, wo er in der Sektion Perspektive Deutsches Kino gezeigt wurde.