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    All eure Gesichter
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    All eure Gesichter

    Bringt Reden mehr als Rache?

    Von Lars-Christian Daniels

    Restorative Justice (auf Deutsch: Restaurative Justiz) existiert mit ihrem Ansatz der Wiedergutmachung und Mediation als Ergänzung zur klassischen Bestrafung schon seit Jahrtausenden. Im Mittelalter zunehmend von der Landkarte verschwunden, gibt es in Europa und Nordamerika seit Mitte des 20. Jahrhunderts wieder verstärkt Bestrebungen, sie mit ihren sozialen und partizipativen Elementen im Rechtssystem zu reinstallieren – Vorreiter ist unter anderem Kanada. Während hierzulande etwa der Täter-Opfer-Ausgleich zur Anwendung kommt, gibt es in Frankreich für Opfer und Täter*innen die Möglichkeit, in sicheren Einrichtungen unter der Aufsicht von Fachleuten und Freiwilligen miteinander zu sprechen.

    In eine solche Gesprächsrunde entführt uns die französische Filmemacherin Jeanne Herry („In sicheren Händen“) in ihrem sehr sehenswerten dritten Langfilm: Das stark gespielte Drama „All eure Gesichter“ lässt verurteilte Straftäter und Geschädigte in einem moderierten Stuhlkreis verbal aufeinander los. Das Ergebnis sind mitreißende Wortwechsel, authentische Einblicke ins Seelenleben der Beteiligten und ein flammendes Plädoyer für eine Stärkung solcher Formate. Ein größerer Kontrapunkt hätte der Botschaft des Films allerdings nicht geschadet.

    Nassim (Dali Benssalah) und Issa (Birane Ba) berichten nach der ersten Überwindung ganz offen von ihren Straftaten.

    Fanny (Suliane Brahim) und Michel (Jean-Pierre Darroussin) sind Freiwillige, die eben solche Gesprächsrunden leiten: Auf die herausfordernde Aufgabe werden sie über mehrere Monate hinweg durch ein professionelles Training vorbereitet, dem wir im Prolog für ein paar Minuten beiwohnen. Unter ihrer Aufsicht können sich drei Opfer und drei Täter, die sich nicht kennen, in einem geschlossenen Kreis freiwillig miteinander austauschen und so gegenseitig zur Überwindung der Folgen der Straftaten beitragen.

    Bei den drei Tätern handelt es sich um Kriminelle, die für ihre Taten hinter Gitter gewandert sind: Nassim (Dali Benssalah) hat mit Komplizen Homejacking betrieben und seine Opfer in deren Häusern dazu gezwungen, Kreditkarten und PIN-Codes preiszugeben. Issa (Birane Ba) hat einen Tante-Emma-Laden überfallen und sich entgegen seinem Bauchgefühl dazu entschieden, mit einem Amateur zusammenzuarbeiten – prompt wurde er geschnappt. Intensivtäter Thomas (Fred Testot) wiederum hat einen ganzen Katalog an Rauben begangen, um seine Drogensucht zu finanzieren.

    Reden hilft oft mehr als Rache

    Die drei Opfer, die mit den schweren Jungs ins Gespräch kommen, bilden das Gegenstück: Grégoire (Gilles Lellouche) wurde in Anwesenheit seiner Tochter von Unbekannten überfallen. Nawelle (Leïla Bekhti) war Kassiererin in einem Supermarkt und wird seit einem Raubüberfall durch Maskierte von schweren Angstzuständen geplagt. Und Sabine (Miou-Miou, Mutter der Regisseurin) traut sich kaum noch aus dem Haus, seit man ihr vor sieben Jahren auf offener Straße ihre Handtasche entrissen und sie anschließend geschlagen und getreten hat.

    Den zweiten Schwerpunkt des Films bildet eine sorgfältig vorbereitete Täter-Opfer-Aussprache unter Mediation von Expertin Judith (Élodie Bouchez): Chloé („Blau ist eine warme Farbe“-Star Adèle Exarchopoulos) wurde als Kind und Teenager jahrelang von ihrem älteren Bruder Benjamin (Raphaël Quenard) missbraucht, der seine Haftstrafe verbüßt hat und nun zurück in ihre Heimatstadt gekommen ist. Als sie am Telefon davon erfährt, ist sie schockiert, will aber unter Aufsicht das Gespräch mit ihm suchen…

    Chloé (Adèle Exarchopoulos) hat es bislang nicht geschafft, den jahrelangen Missbrauch durch ihren großen Bruder zu verarbeiten.

    Regisseurin und Drehbuchautorin Jeanne Herry hat ihre Recherchen zu ihrem Film in gerade einmal vier Monaten absolviert – das „ermöglichte“ ihr indirekt der Corona-Lockdown, in dem sie das Haus ohnehin nicht großartig verlassen durfte und aus der Not ganz einfach eine Tugend machte. Herry führt mit Tätern und Opfern zahlreiche Videokonferenzen und besuchte später einen der Vorbereitungskurse, in dem die freiwilligen Beisitzer*innen auf die fordernden Gesprächsrunden vorbereitet werden. Diese finden grundsätzlich nur in einem Kreis statt, in dem sich die Verbrechen ähneln – Vergewaltiger, Mörder und Räuber sowie ihre konkreten Opfer in denselben Stuhlkreis zu setzen, würde nicht funktionieren.

    Dass die Geschichten der Verbrecher und Geschädigten frei erfunden sind, ist dem Film kaum anzumerken. Dank des Detailreichtums und der persönlichen Noten der Erzählenden strotzen die Dialoge nur so vor Authentizität. Zugleich bieten sie spannende, oft sehr bedrückende Einblicke in Gefühlswelten, die unseren Blick auf die Dinge verändern können: Wir lernen etwa, dass Täter bei Gewalttaten mitunter größere Angstzustände durchleben können als ihre Opfer – und verstehen schnell, dass nicht jedes Opfer auf die gleiche Weise mit der Verarbeitung eines Traumas umgeht. Wer selbst einmal einer solchen Gewalttat ausgesetzt war, wird sich garantiert in Gregoire, Nawelle oder Sabine wiederfinden.

    Jeder hat andere Erwartungen

    Während sich der gutmütige Gregoire zunächst stabil zeigt und für die Motive der Täter interessiert, ist der aggressiven Nawelle daran gelegen, den Kriminellen klarzumachen, was sie eigentlich mit ihren Opfern anrichten. Die verängstigte Sabine wiederum erhofft sich vor allem Unterstützung. Auch bei den durchaus reumütigen und schuldbewussten Tätern ist der Wille, sich in die Runde einzubringen, unterschiedlicher Natur. Ein markanter Kontrapunkt fehlt hier allerdings: Um auch die Risiken und Schwachpunkte solcher Formate herauszuarbeiten, hätte eine Person mit falscher Erwartungs- oder Blockadehaltung dem Stuhlkreis gutgetan.

    Ein Stück weit erklärt sich das aus der Freiwilligkeit der Teilnahme, doch wirkt der Blickwinkel auf das Restorative-Justice-Format unterm Strich etwas einseitig. Der Durchschlagskraft des dialoglastigen und beklemmenden Dramas tut das jedoch kaum Abbruch, man könnte den Beteiligten stattdessen auch stundenlang zuhören. Für Entschleunigung sorgen heitere Momente zwischen den Gesprächsterminen, die die Mediatoren im Privatleben zeigen und das Kammerspiel aufbrechen, im Sinne einer stärkeren Zuspitzung auf das Wesentliche aber verzichtbar sind. Auch stilistisch ist nicht alles aus einem Guss – während wir uns fast alle Straftaten vor unserem geistigen Auge sehr wohl ausmalen, selbst wenn sie nur in den Dialogen stattfinden, wird Nassims Homejacking für einen kurzen Moment auch bildlich eingefangen.

    Den emotionalsten Moment hat Herrys Film aber nicht im Kreise der heterogenen „Selbsthilfegruppe“, sondern bei der aufwühlenden Täter-Opfer-Aussprache zwischen Chloé und ihrem Bruder Benjamin. Wie wichtig eine sorgfältige Vorbereitung eines solchen Gesprächs ist, zeigt schon allein die Tatsache, dass die persönliche Begegnung der beiden nach monatelanger Vorbereitung erst in den Schlussminuten stattfindet. Als der Vergewaltiger das erste Mal die Bildfläche betritt, ist das ein Moment zum Luftanhalten. Bis dahin zeichnet Chloé schließlich das Bild eines perfiden und bestialischen Bruders, der sich bis heute keiner Schuld bewusst ist – was die Sache für Mediatorin Judith besonders herausfordernd macht.

    Fazit: „All eure Gesichter“ ist ein mitreißendes Plädoyer für einen Ausbau und die Stärkung von Restorative Justice. Dass mögliche Schattenseiten entsprechender Maßnahmen kaum eine Rolle spielen, ist angesichts der berührenden wie erhellenden Einblicke in die Seelenleben der (fiktiven) Täter und Opfer zu verschmerzen.

    Wir haben „All eure Gesichter“ beim Filmfest Hamburg 2023 gesehen, wo der Film in der Sektion „Voila!“ gezeigt wurde.

     

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