Gonzo-Journalismus im Berliner Bordell
Von Michael S. BendixDas erste Bild zeigt ein Augenpaar, das die Kamera – und damit uns Zuschauende – fixiert. Langsam fährt die Kamera nach hinten, legt zuerst den Blick auf das Gesicht frei, dann auf den Körper einer jungen Frau und schließlich auch den mittelalten Mann hinter ihr. Sie haben Sex. Das tiefe Rot der kitschig gemusterten Wand, durch einen Rotfilter zusätzlich verstärkt, lässt keine Zweifel darüber offen, dass wir uns in einem Bordell befinden. „Sie fragen sich bestimmt, was eine junge Frau wie ich an einem solchen Ort macht?“, spekuliert die Stimme der Protagonistin aus dem Off.
„Eigentlich nicht“, möchte man antworten, denn dass es Bordelle gibt und mitunter junge Frauen in ihnen arbeiten, ist weder ein Widerspruch noch ein Geheimnis, das es zu lüften gilt. Doch in seinem verdrucksten Sensationalismus, der an die gediegene Arthouse-Version eines Pseudo-Aufklärungsfilms erinnert, nimmt dieser Einstieg schon viel von den tonalen Problemen und inhaltlichen Unschärfen von „La Maison – Haus der Lust“ vorweg.
Emma (rechts: Ana Girardot) sammelt nicht nur eigene Erfahrungen für ihr Buch, sondern hört sich auch bei ihren Kolleginnen nach spannenden Geschichten um.
Die 27-jährige Schriftstellerin Emma (Ana Girardot) zieht von Paris nach Berlin, wo sie ihrem Liebeskummer entfliehen und ihr drittes Buch schreiben will. Darin soll es um die Welt der Sexarbeiterinnen gehen, denn im Gegensatz zu Frankreich ist Prostitution in Deutschland nicht illegal. Doch nur mit Prostituierten zu sprechen, reicht Emma nicht aus: Sie beschließt, in der Art einer Gonzo-Journalistin selbst eine von ihnen zu werden – einerseits, um aus erster Hand berichten zu können, andererseits, um sich eine lang gehegte Fantasie zu erfüllen.
Zunächst kommt sie in einem von Männern geführten Bordell unter, das allerdings von einer bedrückenden Atmosphäre und strengen Hierarchien geprägt ist. Eine ganz andere Erfahrung macht Emma – beziehungsweise Justine, wie sie sich in ihrer neuen Rolle nennt – im „La Maison“, das komplett in Frauenhand ist: Hier herrschen Umsicht und Solidarität, und Emma beginnt die Arbeit tatsächlich zu genießen. Aus den ursprünglich geplanten drei Wochen werden schließlich zwei Jahre…
Anissa Bonnefonts Film basiert auf dem gleichnamigen autofiktionalen Buch von Emma Becker – und handelt damit nicht nur von einer sexuellen Erweckungsreise, sondern auch von der Entstehung seiner eigenen Vorlage. Angesichts dieser Ausgangslage könnte man auf Erkenntnisse und Einblicke hoffen, die tatsächlich über das hinausweisen, was man aus anderen Büchern und Filmen schon weiß – doch „La Maison – Haus der Lust“ hat erstaunlich wenig zu erzählen, nachdem die Grundsituation erst einmal etabliert ist.
Der Gegensatz zwischen Prostitution und selbstbestimmter Sexarbeit, um den es Becker und Bonnefont zu gehen scheint, ist schnell illustriert: Im ersten Bordell dominieren dunkle Blautöne, die so kühl sind wie der zwischenmenschliche Umgang, und wenn Emma mit den Freiern verschwindet, ist das auf der Tonspur mit dumpfen, unheilvollen Soundscapes unterlegt. Das „La Maison“ erscheint im Vergleich hell und einladend, der Umgangston ist freundschaftlich, selbst die Freier behandeln Emma nicht nur als Sexobjekt, als anonymen Körper, sondern teilen sich ihr mit.
Nachdem sie im ersten Bordell noch schlechte Erfahrungen gemacht hat, lebt Emma im La Maison auch ihre eigenen sexuellen Phantasien aus.
So folgen wir ihr in loser Struktur von einer sexuellen Begegnung zur nächsten, aber ein interessanter Film will sich daraus nicht ergeben: Emma gefällt, was sie macht, weder innerlich noch äußerlich stößt sie auf größere Widerstände. Der ab und zu per Voice-Over erwähnte Clash zwischen Bordellarbeit und bürgerlichem Leben findet faktisch nicht statt – sowohl Emmas bester Freund als auch ihre Schwester sind schnell eingeweiht, und selbst dann, als sie über Tinder einen Mann kennenlernt, ergibt sich daraus kein nennenswerter Konflikt.
Der ambivalenteste und deshalb spannendste Aspekt an „La Maison – Haus der Lust“ ist die Undercover-Story, die in ihm steckt: Zwar übt Emma den Beruf der Sexarbeiterin weit länger aus, als sie müsste – trotzdem beginnt sie ihn unter falschen Vorzeichen. Wenn sie sich die Probleme der Freier anhört und ihre Kolleginnen zu ihren Hintergründen und Motivationen befragt, wissen diese natürlich nicht, dass sie damit zu Romanfiguren werden. Als die Frauen in einer Szene über den Unterschied zwischen Sexarbeit und „normalen“ Angestelltenverhältnissen sprechen, benennen sie erstere als selbstbestimmten Gegenentwurf zu kapitalistischen Verwertungslogiken – dass Emma sie letztlich ebenfalls verwertet, um in Form von Buchverkäufen von ihren Geschichten zu profitieren, schwingt als Subtext so offensichtlich mit, dass es irritiert, wie wenig Raum Bonnefont ihm einräumt. Erst in der letzten Viertelstunde spricht eine der Sexarbeiterinnen Emma auf ihr Notizbuch an – dabei lässt der Film es dann aber auch bewenden.
Zwischendurch lässt der Film noch ein paar „Talking Points“ aus dem aktuellen Diskurs in seine Dialoge einfließen, kommt über „Natürlich leiden viele Prostituierte unter ihrer Situation, aber manche machen es auch freiwillig“ jedoch nie hinaus. Am Ende flüchtet sich „La Maison“ in eine Ode an die Vielfalt von Weiblichkeit – der passende Schlussakkord für einen Film, der unter ästhetischer Indifferenz genauso leidet wie an inhaltlicher Leere. Dabei hätte es der dezidiert weibliche und radikal subjektive Blick sein können, den Bonnefonts dritte Regiearbeit thematisch ähnlich gelagerten Filmen voraushat.
Den altbekannten Motiven – das Bordell als Parallelgesellschaft, die Prostituierte als Therapeutin, der Körper als Machtinstrument – hat „La Maison – Haus der Lust“ aber dennoch wenig hinzuzufügen. Und wo die Milieustudie in Allgemeinplätzen verharrt, wird Emma als Hauptfigur nie dreidimensional genug, als dass ihre persönliche Reise den Film tragen könnte. So denkt man schließlich doch vor allem an bessere Filme zurück: den galligen Camp von Ken Russells „Die Hure“ (1991), die opake Opulenz von Bertrand Bonellos „Haus der Sünde“ (2011) oder die urteilsfreie Neugier von François Ozons „Jung & Schön“ (2013).
Fazit: Annisa Bonnefonts Literaturverfilmung „La Maison – Haus der Lust“ verspricht eine neue Perspektive auf das Thema Sexarbeit, weiß mit ihren interessanten Anlagen aber wenig anzufangen.