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    Oppenheimer
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Oppenheimer

    Eine eindrückliche Warnung – und großes Kino!

    Von Björn Becher

    Kurz vor dem Kinostart seines dreistündigen Epos „Oppenheimer“ sah sich Christopher Nolan tatsächlich genötigt, die offensichtlich absurde Meldung zu dementieren, er habe bei den Dreharbeiten seines Films über den Erfinder der Atombombe wirklich eine der Massenvernichtungswaffen detonieren lassen. Es schmeichele ihn zwar, dass es in der Vorstellungskraft einiger Leute liegt, dass er für das bestmögliche Leinwanderlebnis zu einer dermaßen extremen Maßnahme greifen könnte. Aber es sei zugleich auch ein wenig furchteinflößend, dass ihm so etwas zugetraut wird. Angestoßen hat er das Gerücht ein Stück weit selbst, als er in einem früheren Interview erwähnte, dass es keinerlei CGI in „Oppenheimer“ gebe – was dann von einigen als Verzicht auf jegliche Effekte missverstanden wurde.

    Denn natürlich hat das verschachtelte Historien-Drama auch viele visuelle Effekte, für die der „Dark Knight“-Regisseur wie zuvor schon bei „Dunkirk“ und „Tenet“ erneut dem Spezialisten Andrew Jackson die Leitung übertrug. Und dennoch: Kino-Technik-Freak Christopher Nolan hat bei „Oppenheimer“ gemeinsam mit Jackson und seinem Spezial-Effekte-Zauberer Scott Fisher, der ihn bereits seit „Inception“ begleitet, das Gros auf eine altmodische und vor allem immer auf praktische Art gemacht. Dabei zeigt sich einmal mehr, dass er das Zusammenspiel von überwältigenden Bildern und auch mal ohrenbetäubendem Sound besser versteht als jeder andere: „Oppenheimer“ entwickelt gerade in der zweiten Hälfte einen unglaublichen Rausch, der dafür sorgt, dass die Lehrstunden in theoretischer Physik und politischem Intrigenspiel selbst dann absolut mitreißend ausfallen, wenn man (beim ersten Schauen) nicht alles komplett durchschaut.

    Christopher Nolan gibt seinem Stamm-Nebendarsteller die Chance seines Lebens – und Cillian Murphy nutzt sie voll aus: Was für eine Performance!

    Die Geschichte von „Oppenheimer“ wird ausgehend von zwei verschiedenen Anhörungen in Rückblenden erzählt: Zum einen muss sich J. Robert Oppenheimer (Cillian Murphy) Mitte der 1950er-Jahre in einem Hinterzimmer-Verfahren gegen die Entziehung seiner Sicherheitsfreigabe (und damit gegen den Verlust seines Jobs) zur Wehr setzen. Dafür muss er sein gesamtes (Arbeits-)Leben ausbreiten: Er erzählt vom Studium in Europa und dass er es war, der die theoretische Quantenmechanik überhaupt erst in die USA brachte. Er legt private Fehltritte offen und spricht über seine (frühere) Zustimmung zu ausgewählten kommunistischen Ideen. Doch vor allem erzählt er davon, wie er trotz seiner Beobachtung durch das FBI zum Leiter des Manhattan-Projekts ernannt wurde und so den Auftrag bekam, schneller als die Nazis eine Bombe zu bauen, die den Zweiten Weltkrieg (und am besten gar alle Kriege) ein für alle Mal beendet. Dieser das Gros des Films ausmachende Teil ist in Farbe.

    Einige Jahre später soll der US-Senat den Politiker Lewis Strauss (Robert Downey Jr.) in einer öffentlichen Anhörung als Handelsminister im Kabinett von Präsident Dwight D. Eisenhower bestätigen. Schon bald schwenkt die Befragung auf die sehr spezielle Beziehung von Strauss und Oppenheimer um: Der Selfmade-Millionär und selbst erklärte Wissenschaftsförderer leitete nach dem Krieg die amerikanische Atomenergiebehörde und geriet dabei in einen Konflikt mit Oppenheimer. Seitdem die Russen auch über Atombomben verfügen, stellte sich nämlich immer dringender die Frage, ob die USA jetzt nicht eine noch mächtigere Wasserstoffbombe entwickeln müsse – doch Oppenheimer stellte sich stets offensiv gegen ein solches Wettrüsten. Dieser Teil wird in Schwarz-Weiß erzählt.

    Aller Anfang ist schwer ...

    Der auch selbst für das Drehbuch verantwortlich zeichnende Christopher Nolan (basierend auf dem mit einem Pulitzer ausgezeichneten Sachbuch „J. Robert Oppenheimer: Die Biographie“) wirft sein Publikum direkt hinein in eine verschachtelte Erzählstruktur mit zahlreichen Rückblenden und Zeitsprüngen – wobei man durch die Einteilung in schwarz-weiße und farbige Passagen aber zumindest immer weiß, aus wessen Sicht man gerade auf die Ereignisse schaut, denn der Blick auf Geschichte ist in „Oppenheimer“ betont subjektiv: Manchmal sehen wir ein und denselben Moment sogar zwei Mal, einmal aus der Sicht des Protagonisten und einmal aus der seines Widersachers, wobei sich in den verschiedenen Erinnerungen mitunter nur ein Gesichtsausdruck im Hintergrund leicht voneinander unterscheidet: Hat er die Beleidigung jetzt einfach souverän weggelächelt oder hat sie ihn nicht vielmehr hochgradig erschüttert? All das macht den Einstieg in die komplexe Erzählung, bei der dazu ja auch noch die Quantenphysik eine zentrale Rolle spielt, nicht unbedingt leichter.

    Aber das beharrliche Dranbleiben zahlt sich aus: Denn nach und nach entfaltet sich so eine kraftvolle Geschichte, die weit über ein einfach nur Fakten und Begegnungen herunterratterndes Biopic hinausgeht: Wie eine klassische Kino-Biographie mutet „Oppenheimer“ nur zu Beginn an, wenn die Hauptfigur erst in London Niels Bohr (Kenneth Branagh), dann in Deutschland Werner Heisenberg (Matthias Schweighöfer) und schließlich in den USA Ernest Lawrence (Josh Hartnett) trifft – und man sich schon in einem Stars-als-Nobelpreisträger-Schaulaufen wähnt. Doch nach und nach verdichtet sich das Handlungsgerüst – genau wie die Materie in einer Atombombe kurz vor dem großen Knall.

    Sobald die Geschichte nicht aus der Sicht von Oppenheimer, sondern aus der von Lewis Strauss (Robert Downey Jr.) erzählt wird, wird der Film Schwarz-Weiß.

    Das Prunkstück der verschachtelten Erzählung ist dabei die faszinierend-ambivalente, gleichermaßen mitreißende wie widerborstige Hauptfigur: Der überall aneckende Star-Physiker Oppenheimer war fest entschlossen, die Bombe zu bauen, und ließ sich für diesen Erfolg auch ausgiebig feiern. Trotzdem trat er anschließend dafür ein, die Nukleartechnik unter die Aufsicht einer globalen Regierung zu stellen und den Bau einer noch zerstörerischen Wasserstoffbombe unbedingt zu verhindern. Indem Christopher Nolan in den Rückblenden immer wieder den euphorisierten und den verzweifelten Oppenheimer gegenüberstellt, arbeitet er die ganze Zerrissenheit seines Titel-„Helden“ heraus.

    „Oppenheimer“ ist eben kein sprödes Biopic, sondern ein regelrechter Rauschfilm: Während sich Oppenheimer in der Abgeschiedenheit von Los Alamos immer mehr in die Aufgabe hineinsteigert, die Atombombe zu erfinden, verlieren wir uns als Publikum in Nolans audiovisueller Überwältigung. Da ist irgendwann fast egal, wofür genau der nächste eingeführte Physiker, Anwalt oder Militär zuständig ist, und welcher hochkarätige Star diesmal für einen der zahlreichen 5-Minuten-Auftritte vorbeischaut. Selbst wenn in Nolan-typischer Manier manche Dialoge (zumindest in der englischen Originalfassung) so von anderen Geräuschen überlagert werden, dass man ihnen eigentlich kaum noch richtig folgen kann, schmälert dies das Bombast-Erlebnis nicht.

    ... aber das Dranbleiben lohnt sich!

    Das Zusammenspiel von Bild und Ton sorgt nicht nur dafür, dass „Oppenheimer“ sich über Strecken wie ein spannender Thriller anfühlt, sondern unterstreicht gemeinsam mit dem herausragenden „28 Days Later“-Star Cillian Murphy in der Hauptrolle auch noch weiter diese totale Zerrissenheit: Immer wieder schwillt der Sound (manchmal gar gemeinsam mit dem Score von „Black Panther“-Komponist Ludwig Göransson) an, um uns einen Blick in Oppenheimers Innenleben zu gewähren. Viel spielt Nolan dabei mit Vorgriffen: Da gibt es etwa dieses wüste Trampeln in Oppenheimers Kopf, das ihn ständig foltert – und dessen Ursprung sich erst später in der Stunde seines größten Triumphs enthüllt.

    „Oppenheimer“ ist ein lauter, drängender, fast aufdringlicher Film – sowohl visuell wie akustisch. Dabei schreckt Nolan auch diesmal nicht davor zurück, mal ganz plakativ vorzugehen: Wenn Oppenheimer vor dem ihn erbarmungslos verhörenden Juristen Roger Robb (Jason Clarke) alles offenbaren muss, dann sitzt der Physiker in Nolans Bildern plötzlich buchstäblich nackt da. Wobei selbst das noch gesteigert wird: In einer Szene sehen wir Oppenheimer beim Sex mit seiner inzwischen toten Geliebten Jean Tatlock (Florence Pugh) – und zwar auf dem Verhörstuhl, vor ihm das Komitee, hinter ihm seine Frau Kitty (Emily Blunt), die sich all die demütigend-intimen Details des Fehltritts ihres Mannes mit anhören muss.

    Matt Damon wollte seiner Frau zuliebe eigentlich eine Schauspielpause einlegen – aber als Christopher Nolan anrief, konnte er einfach nicht widerstehen.

    Doch Nolan beherrscht in diesem Film vielleicht so gut wie noch nie in seiner Karriere auch die leisen Bilder und Töne, die dann als Verstärker für die ganz großen Szenen dienen: Wenn Oppenheimer die ihm vom Militär aufgezwungene Uniform ablegt und stattdessen wieder sein Physiker-Outfit mit Anzug und Hut anlegt, hat die nachfolgende Szene etwas von einer Comic-Adaption – die Ganzkörper-Aufnahme des Superhelden in seinem Kostüm und mit seiner eigenen Musik. Doch die Szene ist auch deshalb so effektiv, weil sie insbesondere auf der Tonspur ausgiebig vorbereitet wurde: Denn das hier zum ersten Mal länger und in ordentlicher Lautstärke abgespielte Stück klang auch vorher schon immer wieder in kleinen Auszügen und subtil im Hintergrund an.

    Ausgerechnet beim alles entscheidenden Moment des Films, dem Atombombentest in Los Alamos, nimmt sich Nolan sogar deutlich zurück: Die Musik ist nur minimal im Hintergrund zu vernehmen. Stattdessen hören wir fast nur noch das Atmen der angespannten Wissenschaftler, die da gerade eine Kraft mit weltzerstörerischer Wirkung entfesseln. In einem Punkt verzichtet Nolan allerdings darauf plakativer zu sein: Wenn Oppenheimer das erste Mal sieht, was „seine“ Bomben in Hiroshima und Nagasaki angerichtet haben, verzichtet der Regisseur darauf, das Grauen selbst zu zeigen, was die Anti-Atombomben-Botschaft des Films vielleicht noch deutlicher unterstrichen hätte. Die Kamera bleibt aber auf dem Gesicht des Protagonisten, in dem sich der Schrecken über die Folgen seiner Erfindung abzeichnet. Denn Nolan bleibt immer nah an seinen Hauptfiguren, erzählt aus ihrer Sicht.

    Emily Blunts spätes Ausrufezeichen!

    Doch es ist nun einmal die Stärke des Films, immer möglichst nah an seinen Figuren zu bleiben – was der starke, von Cillian Murphy und Robert Downey Jr. angeführte Cast auch mit Bravour umsetzt. Neben Matt Damon („Air – Der große Wurf“), der sich als militärischer Leiter des Manhattan-Projekts viele mitunter sogar amüsante Scharmützel mit seinem wissenschaftlichen Widerpart liefert (das „Einstellungsgespräch“ ist eine der witzigsten Szenen aus Nolans gesamter Karriere), ist hier aber vor allem Emily Blunt („Jungle Cruise“) als herausstechendes Highlight zu nennen. Die Rolle der Kitty Oppenheimer ist nämlich nur auf den ersten Blick ein höchst undankbarer Part.

    Das erste Mal sehen wir sie im engen Verhörraum so unscharf im Hintergrund, dass sie fast nicht zu erkennen ist. Wenn sie dann doch kurz ins Zentrum rückt, geht es so rasant im Schnelldurchlauf über das erste Kennenlernen und einen Ausritt mit Pferden direkt hinein in die Ehe mit Oppenheimer, dass dabei überhaupt keine Zeit für Gefühle bleibt. Doch Blunts große Klasse zeigt sich, wenn sie gen Ende plötzlich das Wort ergreift: In einem der emotionalsten und stärksten Momente erschafft sie mit einer wahren Gänsehaut-Performance eine wahnsinnig schlagfertige und lebenskluge Figur aus Fleisch und Blut, deren Leben und Leiden an der Seite ihres eigenwilligen Mannes greifbar wird. Es sind solche Momente, die ihren Anteil daran haben, dass „Oppenheimer“ nur am Anfang wie eine trockene Geschichtsstunde wirkt, bevor sich dann doch sehr schnell ein fesselnder Rausch einstellt.

    Fazit: Es kann ein wenig dauern, bis man Zugang zu „Oppenheimer“ findet. Was Christopher Nolan dann aber insbesondere im finalen Drittel seines dreistündigen Biopic-Epos auf die Leinwand wuchtet, ist wahrhaft eindrucksvoll und in den besten Momenten wie ein monumentaler Kinorausch.

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