Erschütternder wie bewegender #MeToo - Dokumentarfilm
Von Björn BecherIm Zuge der mittlerweile in einer Verurteilung zu 23 Jahren Gefängnis gemündeten Vorwürfe der Vergewaltigung und sexuellen Nötigung gegen den Filmproduzenten Harvey Weinstein wurde auch der Hashtag #MeToo populär. Millionenfach nutzen ihn seitdem betroffene Frauen, um sichtbar zu machen, welche Ausmaße sexuelle Belästigung und Übergriffe diverser Arten nicht nur in der Unterhaltungsindustrie haben. Doch noch ist ein weiter Weg zu gehen.
Einen Schritt dazu beitragen könnte nun auch „The Case You – Ein Fall von Vielen“. Der Film ist allerdings keine weitere Täter-Anklage. Stattdessen erobern sich Regisseurin Alison Kuhn und die Schauspielerinnen Gabriela Burkhardt, Milena Straube, Aileen Lakatos, Isabelle Bertges und Lisa Marie Stojčev mit dem trotz seiner Reduziertheit visuell eindrucksvollen, aber vor allem inhaltlich berührenden Kinoexperiment ihre eigene Geschichte ein Stück weit zurück.
Die fünf Protagonistinnen von "The Case You" inszenieren sich nun selbst im Raum.
Die sechs Frauen, fünf vor und eine hinter der Kamera, kommen in einem leeren Theatersaal zusammen. Sie alle eint eine Erfahrung: Sie haben vor einigen Jahren an einem Casting teilgenommen, bei dem es zu einer ganzen Reihe von Grenzüberschreitungen kam. So wurden Teilnehmerinnen nicht nur ohne vorherige Absprache dazu gebracht, sich auszuziehen – sie wurden auch mit Gewalt selbst in intimen Bereichen begrapscht, dabei physisch und psychisch unter Druck gesetzt. Zudem wurde der ganze Prozess auch noch gefilmt. Der Name des Regisseurs fällt in „The Case You“ nicht, doch es braucht keiner großen Recherche, um dahinter wohl den Schweizer „Tatort“-Regisseur Urs Odermatt auszumachen.
Ein weiterer Übergriff folgte später, als einige der entstandenen Aufnahmen plötzlich für einen experimental-dokumentarischen Film über den Casting-Prozess genutzt wurden. Als das so entstandene Projekt im Sommer 2018 für ein bayerisches Independent-Festival Anfang 2019 angekündigt wurde, hatte das einen Shitstorm auf der Facebook-Seite des Festivals zur Folge. Die Premiere wurde gestrichen. Zum Zeitpunkt der Aufnahmen für „The Case You“ läuft die juristische Auseinandersetzung noch, mit der die Frauen verhindern wollen, dass der ohne ihr Einverständnis entstandene Film jemals erscheint.
In dem Theatersaal erlangen die Frauen nach und nach die Macht über ihre eigene Geschichte und damit über das ihnen widerfahrene Leid, mit dem sich jemand anderes künstlerisch zu profilieren und als radikales Genie in Szene zu setzen versucht, zurück. Die Schauspielerinnen auf der Bühne sprechen nämlich nicht nur miteinander sowie in Einzel-Interviews mit der Regisseurin über das damals Erlebte, sondern visualisieren es in dem bewusst tristen Setting auch auf eindringliche Weise. Was damals passiert ist, wurde schließlich auf Video festgehalten. Aber nur sie selbst können ausdrücken, wie sie es erlebt haben.
So rücken sie sich gegenseitig an Positionen, um zu illustrieren, wie damals die Personen im Raum standen. Die Kamera begleitet sie in diesen Momenten immer wieder durch den leeren und schwarzen Raum, während sie in den dazwischen geschnittenen Interviews statisch bleibt. In diesen und im Gespräch miteinander beschreiben die Frauen eindringlich, was ihnen widerfahren ist, wie sie angegangen wurden und vor allem, wie sie sich dabei fühlten. Wenn sie dann erzählen, wie sie in dem Moment einfach nur wegwollten, dann aber doch alles mit sich haben machen lassen, wird ihre ganze damalige Machtlosigkeit spürbar. Das sind dann die besonders aufwühlenden und niederschmetternden Momente.
Die Kamera ist dieses Mal eine Verbündete.
Beim Casting kam ihnen die Kamera immer wieder nah – und das tut sie auch dieses Mal in eindrucksvollen Aufnahmen, die jeder der Frauen einzeln in den Mittelpunkt rückt, wieder. „The Case You“ ist schließlich kein Plädoyer gegen – auch radikale – Kunst. Aber es gibt eben einen ganz zentralen Unterschied zwischen den beiden Situationen: Die Kamera und die Menschen dahinter sind dieses Mal Verbündete. Da kommt dann auch mal eine Frau aus der Crew rein und reicht einen Eimer, der für eine Nachstellung gebraucht wird. Da ist immer wieder die Stimme der Regisseurin zu hören, die nicht als objektive Beobachterin nachfragt, sondern offensichtlich mit ihren Protagonistinnen noch einmal gemeinsam die schrecklichen Ereignisse durchlebt.
Die (auch juristische begründete) Entscheidung, den Regisseur, seine Produzentin und das Filmprojekt nicht zu nennen, hat auch einen positiven Nebeneffekt: So rücken allein diese Frauen in den Mittelpunkt. Es ist ihre Geschichte und eben nicht die der Täter*innen. Außerdem löst sich der ganz herausragend bebilderte Film so auch ein Stück weit von diesem einen (sicherlich besonders krassen) Casting. Am Ende legt „The Case You“ nämlich auch ganz allgemein die Machtverhältnisse bei einem solchen Vorsprechen auf – und zeigt dabei, wie diese auf unterschiedlichste Arten ausgenutzt werden können. Es ist, wie schon der Untertitel sagt, eben nur „Ein Fall von vielen“.
Fazit: Die Rückeroberung der eigenen Geschichte – intensiv und niederschmetternd. „The Case You“ ist ein so faszinierender wie bedrückender Kinofilm.