Retro-Vibes mit hohem Wohlfühlfaktor!
Von Oliver Kube„Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir“, heißt es zwar in der Umkehrung eines Zitates des römischen Philosophen Seneca, aber vielen mitten im Prüfungsstress steckenden Schüler*innen wird der Sinnspruch trotzdem eher keinen Trost spenden. Eventuell wäre es hilfreicher, mit den Lernenden stattdessen lieber mal ins Kino zu gehen? Anbieten würde sich dafür die neue College-Tragikomödie von „Sideways“- und „The Descendants“-Regisseur Alexander Payne. Schließlich begeistert „The Holdovers“ mit einer tollen melancholischen Grundstimmung, jeder Menge witziger Momente, erstklassigen Performances der Hauptdarsteller*innen sowie einem ebenso konsequent wie liebevoll präsentierten Retro-Vibe. Und etwas fürs Leben (und über die Schule) kann man tatsächlich auch noch lernen.
Dezember, 1970: Paul Hunham (Paul Giamatti) arbeitet als Geschichtslehrer an der traditionsreichen Barton Academy, einem Internat für Jungen in einer Kleinstadt im Nordosten der USA. Wegen seines aufgeblasenen Gehabes kann den Dozenten niemand wirklich ausstehen. Da er allein lebt und offensichtlich sonst nichts vorhat, wird er von der Direktion dazu verdonnert, über die zweiwöchigen Weihnachtsferien die wenigen Schüler zu beaufsichtigen, die nicht zu ihren Familien nach Hause fahren. Ein paar Tage später ist nur noch der 15 Jahre alte, hochintelligente, aber auch ziemlich aufsässige Angus (Dominic Sessa) übrig. Gemeinsam mit der Köchin Mary (Da'Vine Joy Randolph) und der quirligen Lydia (Carrie Preston) aus dem Schulsekretariat, die nebenher noch in einem Lokal als Kellnerin jobbt, entsteht so eine sehr ungewöhnliche Festtagsfamilie…
Keiner mag ihn, aber natürlich zeigt sich über die Feiertage, dass unter der besserwisserischen Schale von Paul Hunham (Paul Giamatti) doch ein weicher Kern steckt.
„The Holdovers“ haftet ein warmes Retro-Feeling an – und das keinesfalls nur, weil die Story ein halbes Jahrhundert in der Vergangenheit spielt und nach Geschlechtern getrennte Schulen inzwischen ziemlich gestrig wirken. Die Ausstattung mitsamt Kostümen, Frisuren, Kulissen sowie Requisiten ist erstklassig. Dazu sind die melancholischen Classic-Rock-Schnulzen von Cat Stevens bis zur Allman Brothers Band exzellent ausgewählt. Das Ganze wird von Alexander Payne und seinem Chef-Kameramann Eigil Bryld („No Hard Feelings“) auch visuell forciert. Gedreht wurde teilweise mit Kameras und Filmmaterial aus der Ära, in der der Film spielt, teilweise wurde aber auch mit digitalen Filtern nachgeholfen. So wird – speziell in den Außenaufnahmen – der typische, leicht körnig-verwaschene Look von Filmen aus den frühen Siebzigern erzielt. Schaut euch als Vergleich vielleicht mal den Trailer zu „Love Story“ (dem größten US-Kinohit des Jahres 1970) an.
Zudem sind die Einstellungen meist eher statisch beziehungsweise direkt auf die Darsteller fixiert – so wie damals eben vornehmlich gedreht wurde. Auf die Spitze getrieben wird der zelebrierte Old-School-Stil in einigen Momenten, wenn die Kamera nach einer vielleicht sogar eher subtilen Pointe plötzlich weit aufzieht. Das eben noch ganz nah auf die sprechenden Figuren fixierte Bild geht ohne Schnitt in eine Totale über – wie im ebenfalls 1970 erschienen Kriegssatire-Superhit „M*A*S*H“ von Robert Altman. So viel Liebe und Hingabe zu selbst kleineren (film-)technischen Details macht einfach Spaß. Doch das wäre natürlich alles nur schöne Spielerei, wenn die Geschichte selbst nichts Substanzielles liefern würde. Aber kein Sorge, genau das tut sie auf streckenweise berührende, dann wieder zum leisen Schmunzeln oder gar lauten Lachen anregende Weise.
Alle drei Hauptfiguren fühlen sich allein und haben tiefe innere Narben. So leidet Teenager Angus darunter, dass seine Mutter (Gillian Vigman) seit dem Verlust seines Vaters nicht mehr für ihn da ist, sondern lieber mit ihrem reichen neuen Ehemann (Tate Donovan) um die Welt jettet. Da ist es kein großes Wunder, dass er seine Schullaufbahn trotzig immer wieder selbst sabotiert. Die Barton Academy ist allerdings seine letzte Chance – das weiß Angus selbst. Sollte er auch hier wieder rausfliegen, wird sein Stiefvater ihn in eine Militärakademie stecken. Das ist natürlich die Lieblingsdrohung aller Teenager-Filme der Siebziger und Achtziger. Aber zu Zeiten des Vietnamkriegs bedeutet das eben auch, dass Absolventen einer solchen Einrichtung direkt nach dem letzten Schultag eingezogen und an die Front geschickt werden.
Köchin Mary hat kürzlich ihren einzigen Sohn genau in diesem Krieg verloren – und muss nun ihr erstes Weihnachtfest ohne ihn überstehen. Sie hat noch eine jüngere Schwester, die hochschwanger ist und sie immer wieder einlädt, über die Feiertage zu ihr zu kommen. Doch Mary hat Angst davor, das junge Glück zu sehen und so nur noch klarer vor Augen geführt zu bekommen, was ihr nun fehlt. Deshalb hat sie sich freiwillig gemeldet, die übriggebliebenen Schüler und Mr. Hunham zu bekochen. Der wiederum scheint sich mit seiner verbitterten Intoleranz gegenüber jeglicher Art von Dummheit beziehungsweise Faulheit und seiner konstant an den Tag gelegten Miesepetrigkeit vor allem selbst bestrafen zu wollen. Warum, das erfahren wir im weiteren Verlauf des Films.
Gerade in den im Freien spielenden Szenen haftet „The Holdovers“ der unverkennbare Kino-Look der Siebziger und Achtziger an!
Was jetzt glaubt, dass sei doch eher eine trübselige Gesellschaft für die mehr als zwei Stunden Laufzeit des Films, liegt völlig falsch. „The Holdovers“ ist eine berührende, clever aufgebaute und in den Dialogen wie Situationen oft sehr witzige Coming-of-Age-Story. Sie handelt von ebenso einfach wie klug gezeichneten Figuren, die lernen müssen, über ihre Trauer, ihren Groll und ihre Selbstverachtung hinauszuwachsen. Wobei der Humor sich primär aus den unbeholfenen Annäherungsversuchen der Charaktere untereinander nähert. Ganz besonders Paul Giamatti und der hier erstaunlicherweise erstmals vor einer professionellen Kamera stehende Domnic Sessa begeistern in diesen Momenten mit ihrem komplett authentisch wirkenden Zusammenspiel. „Billions“-Star Giamatti ist einfach fantastisch. Es ist unmöglich, die Augen abzuwenden, wenn er auf der Leinwand präsent ist – was nahezu durchgehend der Fall ist.
Das vom bisher ausschließlich fürs Fernsehen tätigen David Hemingson („How I Met Your Mother“) verfasste Drehbuch hält zwar ein paar interessante und überraschende Wendungen parat, ist aber dennoch kein Ausbund an Originalität. Im Laufe des Ganzen kommen so immer wieder Gedanken an Filme wie „Der Club der toten Dichter“, „Die History Boys“ oder auch „Das fliegende Klassenzimmer“ hoch. Aber das ist völlig okay. Diese unterschwellige Vertrautheit mit Sujet, Szenario und Situation trägt für die Zuschauer*innen vielleicht sogar entscheidend zum Wohlfühl-Faktor bei, ebenso wie das – zumindest teilweise – vorhersehbare, aber dennoch perfekte, weil rundherum befriedigende Finale.
Fazit: Ein streckenweise nachdenklicher, dann wieder herrlich leichter Wohlfühlfilm mit einem brillant harmonierenden Hauptdarsteller*innen-Trio.