Alles außer schockierend
Von Christoph PetersenSeit dem Videospiel-Biohorror „eXistenZ“ sind 23 Jahre vergangen, in denen David Cronenberg so verschiedene Filme wie „A History Of Violence“, „Eine dunkle Begierde“ und „Maps To The Stars“ abgeliefert hat. Trotzdem ist es für Fans des kanadischen Regisseurs natürlich ein absolutes Ereignis, dass er nun im Alter von 79 Jahren noch einmal zu dem Genre zurückkehrt, das er mit „Parasiten-Mörder“ und „Videodrome“ zunächst selbst mitbegründete und anschließend ein Vierteljahrhundert lang unangefochten dominierte:
Die Science-Fiction-Dystopie „Crimes Of The Future“, die am ehesten noch wie ein Mix aus „Brazil“ und „Crash“ anmutet, liefert tatsächlich noch einmal genau jenen fetischisierten Body-Horror, der auch seine Kult-Klassiker wie „Die Fliege“, „Die Unzertrennlichen“ oder „Naked Lunch“ auszeichnet. Nur der provozierende Schockfaktor ist inzwischen auf der Strecke geblieben – zusammen mit einem Teil des Budgets, das der stellenweise enttäuschend billig aussehende „Crimes Of The Future“ sehr gut hätte gebrauchen können.
Saul Tenser (Viggo Mortensen) bereitet sich darauf vor, einmal mehr für die Kunst (und das zahlende Publikum) aufgeschnitten zu werden.
In einer Zukunft, in der nur noch wenige Menschen die Fähigkeit besitzen, Schmerzen zu empfinden, haben sich Saul (Viggo Mortensen) und Caprice (Léa Seydoux) einen Namen mit ihrer Performance-Kunst gemacht: Er lässt in sich neuartige Organe heranwachsen, die sie noch im Körper tätowiert und dann vor einem begeisterten Publikum aus ihm herausoperiert. Der Bürokrat Wippet (Don McKellar) und seine Assistentin Timlin (Kristen Stewart) sind unterdessen damit beschäftigt, eine Registrierungsstelle für neuartige Organe aufzubauen – so soll verhindert werden, dass die Menschheit bei der Evolution in eine unerwünschte Richtung abbiegt.
Als sich gleich zwei Chancen bieten, die Performance auf ein neues Level zu hieven, gerät das Künstler*innen-Duo damit auch verstärkt ins Visier der Behörden: Zum einen will Saul an einem Inner Beauty Contest teilnehmen und sich dort in der Kategorie „Best Original Organ“ zur Wahl stellen. Zum anderen bietet ein trauender Vater (Scott Speedman) an, seinen von der eigenen Mutter ermordeten, mit einem Plastik verdauenden Organ gesegneten Sohn auf der Bühne live vor Publikum obduzieren zu lassen…
„Crimes Of The Future“ startet vielversprechend-mysteriös mit einem sechsjährigen Jungen, der heimlich im Badezimmer den Plastikmülleimer wegknappert, wobei sich ein rosafarbener Schaum um seinen Mund bildet. Aber schon mit dem Sprung zu Saul, der in einem speziellen Bett schläft, das ihn die ganze Nacht lang ständig in Positionen verschiebt, die seinen Schmerzzentren entgegenwirken, folgt die erste Enttäuschung: Das Möbelstück, das Saul mit Hilfe grünbräunlicher Tentakel an sein Nervensystem „anschließt“, ist zwar offensichtlich organischer Natur, sieht aber aus wie billiges Plastik – keine Spur von der schleimigen Taktilität, die zum Beispiel „eXistenZ“ noch einen solch faszinierenden Ekelfaktor verliehen hat.
Ähnliches gilt für die Kunst-Performances, bei denen zwar allerlei Körper aufgeschlitzt werden, allerdings offensichtlich aus dem Computer stammende Skalpelle zum Einsatz kommen. Dadurch mangelt es an der nötigen Körperlichkeit. Die Szenen sind so weder schockierend noch vermitteln sie nachvollziehbar das behauptete sexualisierte Moment des Operationsaktes („Operationen sind der neue Sex!“). In „Crash“ glaubt man tatsächlich, dass den Protagonist*innen mächtig einer abgeht, wenn sie einen Autounfall sehen/verursachen. In „Crimes Of The Future“ bleibt ein ähnlicher Effekt hingegen aus. Dass David Cronenberg im Vorfeld der Cannes-Weltpremiere angekündigt hat, dass die Zuschauer*innen schon in den ersten Minuten den Saal verlassen oder eine Panikattacke bekommen werden, spricht entweder für seine schamlosen Marketing-Qualitäten – oder er hat jeden Bezug zum heutigen Publikum verloren.
Das Drehbuch stammt bereits aus dem Jahr 1999 – und nach eigener Aussage hat David Cronenberg daran auch nichts mehr geändert. Trotzdem finden sich darin massenhaft Ideen für eine dystopisch-durchfetischisierte Zukunftsvision: „Crimes Of The Future“ ist voll von faszinierenden Einfällen, vom Amt für Organregistrierung bis hin zum Schönheitswettbewerb, bei dem es zur Abwechslung mal wirklich auf die inneren Werte ankommt. Trotzdem wirkt die Welt nicht vollends ausgeformt – was vor allem daran liegt, dass unfassbar viel gelabert wird, statt uns die Dinge einfach mal zu zeigen. Wobei auch das wieder mit dem knappen Budget zu tun haben dürfte: Größere Massenszenen oder aufwändige Kulissen bleiben Mangelware, stattdessen entwickelt „Crimes Of The Future“ einen starken Kammerspiel-Vibe, der der vertrackt-epischen Zukunftsvision nicht gerade zuträglich ist.
Am gelungensten ist „Crimes Of The Future“ immer dann, wenn er die Absurdität seiner Prämisse anerkennt – der sonst so bierernst aufspielende Cronenberg-Spezi Viggo Mortensen („Eastern Promises“) etwa plötzlich bekennt, sehr schlecht im „alten Sex“ zu sein. Leider sind solche Momente eher rar gesät – es sei denn, die grandios-freidrehende Kristen Stewart („Spencer“) ist auf der Leinwand zu sehen: Als Assistentin, der Saul bescheinigt, in „einem bürokratischen Sinne sexy“ zu sein, übertreibt sie es erst mit ihrer graumäusigen Schüchternheit und dann mit ihrem wahnhaften Organ-Fetisch. Als hätte sie als einzige wirklich verstanden, in was für einer Art von Film sie hier eigentlich mitspielt…
Fazit: In der faszinierenden, mit spannenden Ideen vollgestopften Prämisse von „Crimes Of The Future“ steckt sicher irgendwo ein weiterer David-Cronenberg-Body-Horror-Klassiker! Aber in seiner jetzigen Form ist der Film dennoch eine Enttäuschung. Vieles wird nur erzählt statt gezeigt – und das, was man zu sehen bekommt, sieht oft billig aus. Die sinnlich-verstörende Qualität seiner früheren Werke erreicht der Kult-Regisseur nur selten. Dafür rockt Kristen Stewart jede Szene, in der ihre Figur auftaucht – von ihrer überdrehten Energie hätte der Film dringend noch mehr gebraucht.
Wir haben „Crimes Of The Future“ beim Filmfestival in Cannes 2022 gesehen, wo er als Teil des Offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.