Viel mehr als ein Cancel-Culture-Kommentar
Von Björn Becher21 Jahre nach seinem Durchbruch „In The Bedroom“ und 16 Jahre nach dem für drei Oscars nominierten „Little Children“ legt Todd Field mit „Tár“ nun endlich seine heißerwartete dritte Regie-Arbeit vor. Während der langen Pause wurde der Filmemacher zwar immer wieder mit Projekten in Verbindung gebracht, dabei zeigte er sich jedoch derart wählerisch und kompromisslos, dass alle irgendwann im Sande verliefen. Auch „Tár“ hätte sehr leicht scheitern können. Schließlich schrieb Field das satte 158 Minuten lange Drama – laut eigener Aussage – ausschließlich mit Cate Blanchett als möglicher Hauptdarstellerin im Kopf. Hätte sie abgelehnt, wäre er bereit gewesen, auch dieses Projekt in die Tonne zu kloppen und weiter zu pausieren.
Aber Blanchett hat „Ja“ gesagt und das ist ein echter Glücksfall. „Tár“ ist aufgrund seiner Thematik, seiner Laufzeit und einer bewusst ausfransenden Erzählung ein schwieriger, aber eben auch ein starker Film. Und zuvorderst brilliert darin die zweifache Oscarpreisträgerin (für „Elizabeth“ und „Blue Jasmine“) so beeindruckend in der Titelrolle, dass sich schon allein dafür der Kinobesuch lohnt – übrigens auch dann, wenn mangels Interesse für klassische Musik der eine oder andere scharf geschliffene Dialog womöglich über euren (und zum Teil auch unseren) Köpfen hinwegfliegt.
Mit vollem Einsatz dirigiert Lydia Tár (Cate Blanchett) ihr Orchester.
Lydia Tár (Cate Blanchett) hat eigentlich alles erreicht. Als Komponistin erzielte sie sogar den sogenannten EGOT, konnte also je mindestens einen Emmy, Grammy, Oscar und Tony gewinnen. Doch vor allem ist sie einer der weltbesten Maestro. Seit Jahren dirigiert sie die Berliner Philharmoniker und steht aktuell vor einem weiteren Meilenstein: Als erster Mensch der Welt wird sie bald mit einem großen Orchester den kompletten Zyklus von Gustav Mahler aufgenommen und aufgeführt haben. Nach erfolgreichen Darbietungen aller Stücke in den vergangenen Spielzeiten fehlt nur noch die 5. Sinfonie, deren Premiere sich durch die Corona-Pandemie verschoben hat. Nun beginnen die Proben für den neuen Anlauf, doch mit ihm beginnen die Probleme...
Kaum ein Werk wird von so vielen Orchestern der Welt gespielt wie Mahlers 5. Das macht es natürlich umso schwerer, da noch eine eigene Handschrift auszudrücken, die alle Welt von der großen Meisterin erwartet. Vor allem aber bröckelt Társ – von ihrer Assistentin Francesca (Noémie Merlant) auf den ersten Blick so straff organisierte – Welt: Die Ehe mit ihrer Ersten Violinistin Sharon (Nina Hoss) erkaltet langsam. Die gemeinsame Tochter Petra (Mila Bogojevic) wird in der Schule gehänselt. Eine junge Musikerin, die von Tár einst gefördert und dann fallen gelassen wurde, hat sich das Leben genommen. Dazu suchen mysteriöse Geräusche sie heim. Und dann stößt auch noch Olga (Sophie Kauer), eine junge Cellistin aus Russland, zum Orchester und übt von der ersten Sekunde an eine unglaubliche Faszination auf die Dirigentin aus…
Ist die (übrigens komplett fiktive) Lydia Tár nun die Heldin oder die Antagonistin des nach ihr benannten Dramas? Daran lässt Todd Field zu Beginn durchaus Zweifel aufkommen. Wenn die das Gendern ablehnende Dirigentin bei einer Gastlehrveranstaltung in New York den „pansexuellen BIPOC-Studenten“ Max (Zethphan Smith-Gneist), der es ablehnt, Werke „weißer CIS-Männer“ zu spielen, nach allen Regeln der Kunst auseinandernimmt und ihm die Widersprüche seiner Argumentation aufzeigt, brandete bei der Pressevorführung beim Filmfestival in Venedig an dieser Stelle Applaus für sie auf. Denn gab es, wenn auch deutlich verhaltener, allerdings auch für die folgende Szene, in der der Student sie als „Bitch“ beschimpft.
Wenn später ein Online-Mob einen – ihre Aussagen ganz offensichtlich verfälschenden – Zusammenschnitt dieser Lehrveranstaltung nutzen will, um sie zu canceln, wirkt Tár wie ein Opfer, dem Unrecht geschieht. Gleichzeitig wissen wir durch eingeblendete und unmissverständliche E-Mails zu diesem Zeitpunkt aber längst, dass sie selbst wirklich die Karriere und damit das Leben einer jungen Musikerin zerstört hat. Und wir ahnen, dass sie vermutlich auch weitere junge Frauen in ihrem Orchester besonders gefördert hat, wenn diese privat mit ihr ins Bett gegangen sind. Verdient es Tár also nicht, gecancelt zu werden?
Beim Joggen hört Tár (Cate Blanchett) unheimliche Schreie.
Der bislang für alle seine Drehbücher oscarnominierte Todd Field schrammt in solchen Momenten haarscharf daran vorbei, „Tár“ zu einem moralinsauren Lehrstück über Cancel Culture und übergriffiges Verhalten zu machen. Aber der Regisseur und Autor vermeidet dies größtenteils schon dadurch, dass er seinen Film in alle Richtungen so unglaublich aufbläst, weshalb die Cancel-Erzählung die überwiegende Zeit gar nicht im Mittelpunkt steht. In langen Passagen begleiten wir die Dirigentin einfach in ihrem Leben – beim New-Yorker-Interview vor Publikum, dem Essen mit dem von ihr verachtetet, aber extrem wohlhabenden Kollegen und Investoren Eliot Kaplan (Mark Strong), in Hotelzimmern oder in der Berliner Industrial-Chic-Luxuswohnung ihrer Ehefrau.
Auf den ersten Blick mäandert Field fast schon ziellos durch die Erzählung. Viele Szenen verlaufen im Sand. Dazu bringt er auch noch plötzlich Horror-Elemente ein. Sind die Frauenschreie, die sie beim Joggen im Wald hört, oder der monströse Hund, der sie in einem Neuköllner Keller verfolgt, nun real oder existieren sie nur in ihrer Einbildung? Dass Field vieles dann einfach wieder fallen lässt, Dinge nicht auflöst, wird sicher den einen oder die andere nerven. Es sorgt aber dafür, dass „Tár“ sich eben nicht wie dramatisierte Schwarz-Weiß-Malerei anfühlt. Gerade dadurch werden die mit dem Finale dann doch etwas zu sehr heimgehämmerten Aussagen erträglich.
Aber die vielseitigen Blicke in den Alltag bringt dann auch reihenweise großartige Momente mit sich. Wenn Tár einer Mitschülerin ihrer kleinen Tochter klar macht, dass sie diese nicht mehr Hänseln darf, hat ihr Vorgehen etwas Diabolisches an sich. Diese auch in der englischen Originalfassung in deutscher Sprache formulierte Ansprache ist eines von vielen Beispielen für die immer wieder herausragenden und geschliffenen Drehbuchzeilen in „Tár“ - doch an dieser Stelle müssen wir auch „warnen“.
Wenn bei den vielen Diskussionen über Musik und Einflüsse mit Namen nur so um sich geschmissen wird, dürfte ein Großteil über die Köpfe aller hinwegfliegen, die sich nicht intensiv mit klassischer Musik beschäftigen. Da wird sogar die eigene Filmkomponistin Hildur Guðnadóttir („Joker“) erwähnt, als sei sie ein Name, den natürlich jeder kennt. Dass Nichtverstehen, wer und was da jetzt immer genau gemeint ist, ist aber kein großes Problem. Man muss gar nicht immer verstehen, worauf die Figuren gerade anspielen. Wenn Tár ihr Orchester anschnauzt, endlich „den Visconti“ aus den Köpfen zu kriegen, ergibt sich natürlich ein runderes Bild, wenn man weiß, dass sie hier auf die Filmmusik zu dessen „Tod in Venedig“ anspielt, wo Auszüge aus Mahlers 5. besonders ikonisch verwendet wurden. Die Szene funktioniert aber auch ohne diesen Gedankensprung.
Das liegt nicht nur daran, dass Fields extrem sorgfältig recherchierten Dialoge auch jenseits des Namedroppings so stark sind und sich jederzeit authentisch anfühlen, sondern vor allem am fesselnd-einnehmenden Spiel von Cate Blanchett. Die in jeder Szene präsente Hauptdarstellerin schwankt gekonnt zwischen den ganz großen Gesten und der extrem reduzierten Darstellung einer Frau, die eine Maske trägt, weil sie in der Öffentlichkeit keine Schwäche zeigen will (oder darf). Besonders stark ist sie im Zusammenspiel mit Sophie Kauer. Die preisgekrönte deutsch-britische Cellistin gibt als selbstbewusst-junge Frau, welche auf die Avancen von Tár einfach nicht ein Jota eingeht, ein überzeugendes Schauspieldebüt.
Fazit: Mit seiner Überlänge und ausgefransten Erzählung verlangt „Tár“ einiges an Geduld ab. Diese aufzubringen lohnt sich aber – und zwar nicht nur für das herausragende Spiel von Cate Blanchett.
Wir haben „Tár“ beim Filmfestival Venedig gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs seine Weltpremiere gefeiert hat.