Die Heimkehr eines Pornostars
Von Teresa VenaNachdem sein mit Handykameras gedrehter „Tangerine L.A.“ auch international große Aufmerksamkeit erhielt, schwang sich Sean Baker mit seinem oscarnominierten „The Florida Project“ zum absoluten Shooting Star der US-amerikanischen Indie-Szene auf: In dem Film geht es um eine junge alleinerziehende Mutter, die mit ihrer aufgeweckten sechsjährigen Tochter monatelang in einem heruntergekommenen Motel leben muss – und zwar in unmittelbarer Nähe von Disney World. Auf tragikomische Weise und aus der ungewöhnlichen Perspektive des kleinen Mädchens, das diesen Ort am Rande der Gesellschaft vor allem als riesigen Abenteuerspielplatz begreift, erzählt Baker dabei vom durchaus erfolgreichen Kampf um das letzte verbliebene Stück Würde.
In seinem neuen Film, der es sogar in den prestigeträchtigen Wettbewerb von Cannes geschafft hat, konzentriert sich Baker nun erneut auf die weiße Unterschicht, die zwar nur einen Katzensprung entfernt von der Sphäre der Reichen und Schönen lebt, aber trotzdem niemals Zugang zu dieser bekommen wird: Die Protagonisten von „Red Rocket“ haben ihr Ziel zwar buchstäblich direkt vor Augen, doch egal wie sehr sie sich auch bemühen, für sie erfüllt sich der „Amerikanische Traum“ einfach nicht. Allerdings verzichtet Baker darauf, von „Opfern“ zu erzählen, stattdessen erschafft er auch diesmal wieder mitreißend-selbstbestimmte Charaktere, die mit mal mehr, mal weniger legalen Mitteln ein würdevolles Leben führen. Was fast alle Figuren aus den Sean-Baker-Filmen gemeinsam haben, ist eben ihre naive Unmittelbarkeit fernab von irgendwelchen politischen Vereinnahmungen.
Volltreffer: Mit dem "Scary Movie"-Blödelbarden Simon Rex ist Sean Baker ein hohes Risiko eingegangen - das sich jedoch voll auszahlt!
Mikey (Simon Rex) flieht nur mit den Klamotten an seinem Körper Hals über Kopf aus Los Angeles. Später klopft er an die Tür eines einfachen, mit Holz getäferten Hauses. Die zahnlose, ziemlich faltige ältere Frau (Brenda Deiss), die öffnet und sich als seine Schwiegermutter herausstellt, macht allerdings nicht gerade Luftsprünge, als sie ihn sieht. Genauso wenig begeistert ist ihre Tochter Lexi (Bree Elrod). Irgendwann lassen sich die beiden Frauen trotzdem darauf ein, Mikey für ein paar Nächte auf ihrem Sofa kampieren zu lassen, solange er sich dafür an der Miete beteiligt.
In dem kleinen texanischen Ort, den er vor fast zwei Jahrzehnten für eine Karriere als Pornostar in Los Angeles verlassen hatte, findet Mickey allerdings keinen Anstellung. Entweder bemängeln die potenziellen Arbeitgeber seine fehlende praktische Berufserfahrung oder seine Erwachsenenfilme im Internet schrecken sie ab: Es könnte für die Gäste unangenehm werden, wenn sie ihn erkennen, erklärt die Betreiberin eines Fast-Food-Restaurants. Ihm bleibt also gar nichts anderes übrig, als wie damals wieder ins Haschischgeschäft einzusteigen. Für eine gewisse Zeit läuft das auch recht gut und er nähert sich sogar Lexi wieder an. Doch dann lernt Mickey die junge Donut-Verkäuferin Strawberry (Suzanna Son) kennen...
Was man von der Hauptfigur Mikey eigentlich halten soll, weiß man bis zuletzt nicht so recht. Auch nicht, welche seiner Geschichten man glauben kann. Aber genau das macht seinen außergewöhnlichen Charme ja überhaupt erst aus. Simon Rex, der sonst eher in drittklassigen Albernheiten wie „Scary Movie 5“ oder „Halloweed“ zu sehen ist, gibt Mickey mit einer sicheren und eindrücklichen Präsenz als Schelm, der sich in Windeseile an jede neue Situationen anpassen kann. In seiner Heimatstadt hat ihn niemand vermisst – und so muss er sich eben neu erfinden. Ganz egal, wie unbequem das Sofa ist und wie harsch er vom ganzen Dorf beleidigt wird – er steckt alles weg, als sei er ein Stehaufmännchen. Dabei hilft ihm auch seine stets freundliche und fast schon kindlich-naive gute Laune, mit der er die meisten Menschen dann schließlich doch noch für sich gewinnen kann.
Auch wenn es zu Beginn noch so aussieht, vermeidet es Baker, seine Figuren eine moralische Entwicklung durchmachen zu lassen. Sie müssen nichts lernen, sich nicht verändern. Das gilt nicht nur für die Hauptfigur, die am Ende den Ort mit genauso wenig verlässt, wie sie bei der Ankunft hatte. Auch alle anderen werden zwar kurzzeitig von der Anwesenheit von Mikey in ihrer Routine gestört, aber ein typisches Hollywood-Wachrütteln findet nicht statt. „Red Rocket“ begegnet seinen Charakteren ohne Wertung, macht vielmehr eine Bestandsaufnahme dieser prekären, aber nichtsdestotrotz zufriedenen Gesellschaft. Nur Mikey träumt weiter vom Ausbruch und ist dafür auch bereit, zu manipulieren und schönzureden. Da ist es sicherlich kein Zufall, dass der Film während des von beiden Seiten fragwürdig geführten Wahlkampfs zwischen Donald Trump und Hilary Clinton angesiedelt ist.
„Red Rocket“ bietet eine ungewöhnliche Sicht auf das Pornogeschäft: Zum einen macht der Film klar, wie anspruchsvoll der Beruf ist und räumt dabei etwa mit dem Klischee auf, dass es für Männer immer etwas Schönes ist, Sex vor der Kamera zu haben. Stattdessen ist Mikey Saber ein körperlich gebeutelter Mann, der mit gewissen blauen Pillen sein Stehvermögen sicherstellen muss. Sein Wunsch, fortan als Agent zu arbeiten, wird mit dem Kennenlernen von Strawberry, die bereits einen geeigneten Namen für einen Pornostar hat, immer konkreter. Doch so naiv ist die junge Frau nicht, sie weiß selbst genau, was sie möchte. In seiner Behandlung des Themas ergänzt sich „Red Rocket“ übrigens sehr gut mit dem Film „Pleasure“ der Schwedin Ninja Thyberg, der nur wenige Monate zuvor auf dem Sundance-Filmfestival Premiere hatte und der einen noch schonungsloseren Einblick in diesen Industriezweig bietet.
Ähnlich wie in „The Florida Project“ wählt Baker eine Form, die sich fast schon dokumentarisch anfühlt. Er reduziert die inszenatorischen Mittel auf ein Minimum, variiert zwischen statischer und bewegter Handkamera und setzt auf eine Beleuchtung, die die natürlichen Erdtöne des trockenen texanischen Landes zur Geltung bringt. Besonders geschickt geht Baker zudem mit der Verwendung der Musik um, die der ansonst so betont realistischen Handlung eine poppige Note verleiht – und der Hit „Bye bye bye“ der Boyband *NSYNC passt nicht nur zur Geschichte von Abschied und Neuanfang, sondern auch ganz hervorragend zum wankelmütigen Charakter des Protagonisten.
Fazit: „Red Rocket“ kommt der Eindringlichkeit von „The Florida Project“ doch sehr nahe. Auf tragikomische Weise erzählt Sean Baker von skurrilen Figuren, die mit Selbstbewusstsein und Stolz ihr Leben am Rande der Gesellschaft führen. Dicht inszeniert, kurzweilig und oft anrührend ist „Red Rocket“ ein ambitionierter und auf wunderbar-unaufdringliche Weise auch relevanter Film.
Wir haben „Red Rocker“ beim Filmfestival in Cannes gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.