Aufstand der Statisten
Von Lucas BarwenczikImmer wieder zieht es den japanische Kultregisseur Sion Sono („Love Exposure“, „Prisoners Of The Ghostland“) zu Geschichten über das Filmemachen. In „Why Don't You Play in Hell?“ ließ er kinoverliebte Kamikaze-Filmer für die perfekte Actionszene sterben, in „The Forest Of Love“ wurde ein Serienmörder und Betrüger zur zentralen Figur eines Filmprojekts. Vom Kino erzählen bedeutet bei Sono immer auch vom Leben zu erzählen. Seine neuste Annäherung an das Thema heißt „Red Post On Escher Street“ und stellt die Frage: Wieso nur von den vermeintlich wichtigen Leuten am Set erzählen, wenn man auch einfach alle Beteiligten auf einmal in den Fokus rücken kann?
Der populäre Regisseur Tadashi Kobayashi (Tatsuhiro Yamaoka) hält ein Casting für seinen neuen Film „Maske“ ab. Um zu seinen Wurzeln als Indie-Künstler zurückzufinden, will er diesmal auf bekannte Stars verzichten. Zum großen Casting kommen daher Bewerber aller Art, jeder mit eigener (Leidens-)Geschichte. Etwa die junge Witwe Kiriko mit ihren Eltern, die Mitglieder eines fast sektenartigen Kobayashis-Fanclubs oder auch Yasuko, deren Vater sich kurz zuvor vor ihren Augen erstochen hat. Zusammen mit seiner Drehbuchautorin Katako und seinem treuen Assistenten Joe findet der Regisseur bald aussichtsreiche Darsteller. Aber seine Produzenten verfolgen andere Ziele. So kommt es beim Dreh schließlich zum großen Knall…
Die Mitglieder Kobayashis-Fanclubs beten ihren Lieblings-Regisseur an...
Sion Sono war noch nie daran interessiert, Filme wie perfekt geölte Maschinen zu schaffen. Er sammelt lieber gewaltige Mengen von Szenen und Momenten, um sie im Nachhinein auf das Notwendige herunterzustutzen. Sein vorheriges Projekt „The Forest Of Love“ beispielsweise wurde deshalb als Film und als Serie veröffentlicht. Statt zügig von Punkt A zu Punkt B zu marschieren, strebt Sono stets zu den Punkten C, X und P532. Auch „Red Post On Escher Street“ trägt eher Ereignisse zusammen, als eine klassische Geschichte zu erzählen. Manche Situationen werden sogar mehrfach gezeigt, immer aus der Perspektive einer anderen Person.
Handlungsstränge zerfasern und verknoten sich, drehen sich einer Figur zum Strick und der nächsten zum Rettungsseil. Man sollte dabei nicht unbedingt naturalistisches Schauspiel erwarten: Die Darsteller bei Sono sind laut, ungestüm und immer ein wenig drüber. Aber das ist Teil des Charmes, eher Feature als Bug. Statt beliebig zwischen verschiedenen Personen hin- und her zu schneiden, überträgt sich die Aufmerksamkeit der Kamera per Kontakt. Die Figuren und Figurengruppen reichen die „Hauptrolle“ untereinander weiter wie einen Staffelstab. Weil es von ihnen fast so viele gibt wie in einem Film von Robert Altman oder einem russischen Roman, beginnen manche Sequenzen damit, dass die Namen aller Beteiligten eingeblendet werden.
Wie kann man sich das vorstellen? In einer Szene besucht Regisseur Kobayashi beispielsweise das Filmset eines Kollegen. Die Kamera bleibt an einer Gruppe von Statisten kleben, die sich bei einem Take etwas zu weit in den Vordergrund gedrängt haben. Einer von ihnen – ein älterer Herr – stellt sich zwei Neuankömmlingen als der „König der Statisten“ vor. Er lädt sie zu sich nach Hause ein, wo er ihnen DVDs mit all seinen Glanzleistungen zeigt – manchmal ist er fast 15 Sekunden (!!!) lang zu sehen. Er hat extra eine Stoppuhr, um das direkt nachzumessen! Am Ende des Abends folgt die Kamera einer seiner Besucherinnen, die nach einem Streit mit einem Freund wiederrum auf die traumatisierte Yasuko trifft.
Die meisten Figuren verbindet dabei, wie sie ihre Bewerbungen für das Casting verschicken: Sie werfen sie in den titelgebenden roten Briefkasten in der Escher Street! Merkwürdig nur, dass die Escher Street immer woanders ist und der rote Kasten sich scheinbar teleportieren kann. Denn der Titel ist natürlich eine Anspielung auf den berühmten niederländischen Künstler M. C. Escher, bekannt für seine Bilder von Figuren und Architektur, die in der Wirklichkeit in dieser Form niemals existieren könnten. Auch der Film ist voll von solchen verrückten Schleifen und undenkbaren Verknüpfungen.
Es ist immer derselbe rote Briefkasten - aber merkwürdigerweise steht der immer woanders...
Das unbestreitbare Highlight des Films ist sein großes Finale - der eigentliche Dreh. Eine Sequenz, die mehr als eine halbe Stunde lang immer weiter eskaliert. Hier treffen all die Figuren aufeinander, die wir zuvor kennen gelernt haben. Alle Widersprüche und Streitereien spitzen sich zu, alle verborgenen Wünsche und Zweifel brechen hervor. Fiktion und Wirklichkeit, Rolle und Darsteller prallen aufeinander und sind schließlich kaum mehr voneinander zu unterscheiden.
Die Kamera tanzt, oft in langen Plansequenzen, zwischen den Darstellern hin- und her. Hier wird das wahnwitzige Projekt des Films offenkundig: Ein Kino zu schaffen, in dem die Menschen nicht einfach in wichtig und unwichtig, in Protagonisten und Statisten unterteilt werden. Im Chaos sind alle gleich viel wert. Kobayashi verweist auf den französischen Dichter Henri Michaux, der einmal erzählt hat, dass er im Kino immer vor allem auf die vermeintlich bedeutungslosen Menschen im Hintergrund achtet.
Es ist schon erstaunlich, dass wir in der Fiktionen Hierarchien akzeptieren, die uns in der Wirklichkeit absurd vorkämen. Kaum ein Geschichtsbuch reduziert die Menschheit noch auf wenige große Einzelpersonen. Sono macht sich für die zweite bis allerletzte Reihe stark und übergibt Erzählstandards lustvoll dem Tohuwabohu, das viele seiner Geschichten irgendwann erreichen. In jungen Jahren war er Teil der Performance-Art-Gruppe „Tokyo Gagaga“. Filme wie sein „Bad Film“ vermitteln einen Eindruck davon, wie ihre Aktionen in den Straßen der japanischen Hauptstadt gewirkt haben müssen. „Red Post On Escher Street“ besinnt sich auf diese alten Stärken und ist voll von Humor und innerem Feuer. Perfekt unperfekt!
Fazit: „Red Post on Escher Street“ ist so wundervoll wild und frei, wie es nur die besten von Sonos Filmen sind. Es dauert ein wenig, bis alle Dominosteine in Position sind – aber spätestens, wenn der Abspann läuft, will man auf die Straßen stürmen und nach einer Welt suchen, die auch nur ansatzweise an seine ungezügelte Energie heranreicht.
„Red Post On Escher Street“ feiert seine Deutschlandpremiere bei der Online-Ausgabe der Woche der Kritik, die vom 27. Februar bis zum 7. März 2021 stattfindet. Hier könnt ihr Tickets für das Streaming-Event erwerben.