Selbstfindung in Tausenden Metern Höhe
Von Teresa VenaDer belgische Regisseur und Drehbuchautor Felix van Groeningen hat etwas von einem Rockstar – eine wilde und rebellische Seite, die er immer wieder auch durch die Protagonist*innen seiner Filme auslebt. Das war bereits in seinem Langfilmdebüt „Steve + Sky“ (2004) spürbar, in dem es um eine leidenschaftlich-destruktive Liebesgeschichte im Rotlichtmilieu geht, oder später in „Die Beschissenheit der Dinge“ (2009), in dem eine Gruppe halb versoffenerer, aber dennoch weitestgehend liebenswerter Männer den Übergang ins Erwachsenenleben verpassen. Van Groeningen erzählt regelmäßig von verlorenen Typen, die ihren Platz im Leben suchen und sich dabei zugleich darüber klar werden müssen, welche Verantwortung sie für sich und andere zu übernehmen bereit sind.
Das Rockerpaar, das in dem oscarnominierten „The Broken Circle“ (2012) um das Leben der an Leukämie erkrankten Tochter bangt, droht genau an dieser Verantwortung zu zerbrechen. Mit diesem Melodrama feierte van Groeningen seinen internationalen Durchbruch. Auch in „Café Belgica“ (2016) oder seinem Hollywood-Ausflug „Beautiful Boy“ (2018) geht es um Menschen, mehrheitlich Männer, die – grob gesagt – Schwierigkeiten haben, sich mitzuteilen. Das manifestiert sich entweder in einem überbordenden Lebensstil oder, wie jetzt auch in dem Selbstfindungs-Drama „Acht Berge“, das der Regisseur gemeinsam mit seiner Partnerin Charlotte Vandermeersch realisiert hat, in einer wortkargen Introvertiertheit. In dieser Verfilmung vom Paolo Cognettis Roman „Le Otto Montagne“ gelingt es dem Regie-Duo allerdings (zu) selten, durch diese stoische Schale hindurchzustoßen.
Pietro (Luca Marinelli) und Bruno (Alessandro Borghi) treffen sich nach Jahren wieder – und bauen monatelang gemeinsam ein Haus hoch oben auf dem Berg…
Pietro (Luca Marinelli) kam schon als Kind mit seinen Eltern regelmäßig in den kleinen Bergort Grana, wo seine Familie sich über den Sommer vom Leben und der harten Arbeit in der Industriestadt Turin erholen wollte. Bruno (Alessandro Borghi), das „letzte Kind des Ortes“, ging von Anfang an bei ihnen ein und aus, und die beiden wurden beste Freunde. Der Plan von Pietros Eltern, Bruno mit in die Stadt zu nehmen, um ihm eine Ausbildung und damit eine – ihrer Meinung nach bessere – Zukunft bieten zu können, scheitert allerdings am Einspruch von Brunos Vater. Daraufhin bricht der Kontakt der Freunde erst einmal für einige Jahre ab.
Erst im Erwachsenenalter finden sie wieder zueinander. Der Tod von Pietros Vater, der seinem Sohn eine verfallene Bergruine hinterlassen hat, die nun einen ganzen Sommer lang wieder aufgebaut werden muss, schweißt sie zusammen, auch wenn jeder von ihnen andere Erwartungen ans Leben hat. Während Bruno sich in den Bergen wohl fühlt, dort eine Familie gründet und sich eine Existenz aufbaut, treibt es Pietro immer wieder hinaus in die Welt. Er muss herausfinden, was ihn wirklich begeistert. Ist es das Kochen, das Zeichnen oder das Schreiben? Alles probiert er aus, zwischendurch kommt er zurück zu Bruno, wo er immer willkommen ist und in Ruhe nachdenken kann…
Im Zentrum des Films steht eine ungewöhnliche Freundschaft. Sie beginnt als Zweckgemeinschaft, denn die beiden Kinder sind die einzigen Gleichaltrigen im Ort. Doch für beide bietet sie auch die Gelegenheit, über den eigenen sozialen Kontext hinaus Neues zu erfahren. Pietro kommt aus einem behüteten Umfeld, mit Eltern, die sich um ihn kümmern, sich Zeit dafür nehmen, ihm Dinge zu erklären. Bruno hingegen wächst ohne Vater auf, weil dieser im Ausland als Gastarbeiter anheuert. Die Mutter wie auch der Onkel, die eine Alm betreiben, überlassen ihn meist sich selbst. Mit Worten können sie nicht gut umgehen, weswegen auch Bruno keine Übung hat, sich mitzuteilen.
Das Thema Kommunikation steht im Vordergrund der Geschichte. Bruno entspricht dem Klischee des Berglers, der allenfalls einen grunzenden Gruß hervorbringt und sonst die Tiere den Menschen vorzieht, weil er sich ihnen nicht erklären muss. Pietro bricht mit seinem Vater, weil er irgendwann aufgibt, ihn von seinen alternativen Lebensentwürfen überzeugen zu wollen. Lieber geht er der Konfrontation aus dem Weg. Deswegen dominiert auf beiden Seiten Schweigen, das sich konsequenterweise auch über den Großteil der zweieinhalbstündige Dauer des Films ausbreitet. So bedeutungsschwanger, wie es die Autoren vermutlich beabsichtigten, wirkt dieses Schweigen allerdings nicht. An Pathos geizen sie zwar nicht, doch wirklich berühren vermag „Acht Berge“ auch nicht.
Häuslebauen als Teil der Selbstfindung...
Dies liegt in erster Linie daran, dass die beiden Hauptfiguren kaum Identifikationspunkte bieten. Hinter ihren (Hipster-)Bärten wirken sie unzugänglich, die wenigen Dialoge, die sich meist im Bereich der Banalität bewegen, erleichtern das Einfühlen auch nicht gerade. Abgesehen von der beschriebenen Freundschaft, die man den Figuren nicht immer abnimmt, bemüht das Drehbuch Vater-Sohn-Beziehungen, wie man sie schon oft gesehen hat. Das ist schon schade, denn zumindest die schauspielerischen Leistungen von Luca Marinelli („Martin Eden“) und noch mehr von Alessandro Borghi („Suburra - Die Serie“), die Pietro und Bruno als Erwachsene spielen, ist herausragend. Sie schaffen es, diesen besonderen Menschenschlag Norditaliens mit seinem ganz speziellen Sprachakzent glaubwürdig darzustellen – was umso bemerkenswerter ist, da beide ursprünglich aus Rom stammen.
Im Vergleich dazu ist es bedauerlich, dass nicht näher auf die Bedeutung der Schauplätze und den kulturellen Kontext eingegangen wird. Die Berge bleiben eine etwas papierne Kulisse, trotz der Bemühung, sie – unterstützt durch ein klug gewähltes 4:3-Bildformat, das ihre Vertikalität unterstreicht – besonders in Szene zu setzen. Sicherlich kann man sich von den beeindruckenden Panoramen begeistern lassen, doch die allein machen aus „Acht Berge“ zwar einen schön anzuschauen, aber deshalb noch nicht automatisch gelungenen Film.
Fazit: Es fällt schwer, sich auf die wortkarge, oft stumme Welt dieser Männer einzulassen, da der Film durchgehend etwas Kühles und Distanziertes hat. Genauso reproduziert er altbekannte Klischees, die auf die Dauer langweilen, etwa wenn es um den Charakter des schweigenden Berglers geht oder den Städter die Identitätssuche ausgerechnet nach Nepal verschlägt.
Wir haben „Acht Berge“ beim Filmfestival in Cannes gesehen, wo er als Teil des Offiziellen Wettbewerbs gezeigt und mit dem Großen Preis der Jury wurde.