Zwei Krankenschwestern schlagen sich in Mumbai durch
Von Patrick FeyExakt 30 Jahre ist es her, dass mit „Swaham“ ein indischer Film im Wettbewerb von Cannes vertreten war. Mit „All We Imagine As Light“ setzt die indische Filmemacherin Payal Kapadia dieser langen Durststrecke ihres Landes — das immerhin jährlich mehr Filme produziert als jede andere Nation der Welt — ein Ende. Drei Jahre, nachdem Kapadias vornehmlich durch Briefkorrespondenz erzählter Essay-Film „A Night Of Knowing Nothing“ die Verschärfung des Hindu-Nationalismus und der Kasten-basierten Diskriminierung unter dem indischen Premierminister Narendra Modi aufgriff, liegt der Fokus ihres Spielfilmdebüts nun vor allem auf den ökonomischen Disparitäten ihres Landes. Womöglich an keinem anderen Ort ließen sich diese besser untersuchen als anhand von Kapadias Heimatstadt Mumbai.
Mumbai, heißt es an einer Stelle, sei eine Stadt, an deren Illusion man glauben müsse—andernfalls werde man verrückt. Jeder Inder und jede Inderin habe zumindest ein Familienmitglied in der 20-Millionen-Metropole. Unter ihnen leben auch Anu (Divya Prabha) and Prabha (Kani Kusruti), zwei Krankenschwestern, die an unterschiedlichen Punkten ihres Lebens stehen. Während sich Prabha von ihrem seit geraumer Zeit in Deutschland lebenden Ehemann nicht nur geografisch, sondern auch emotional entfremdet hat, ist die jüngere Anu permanent auf der Suche nach einem ungestörten Ort, um endlich mit ihrem muslimischen Freund intim werden zu können.
Dass es Kapadia um mehr geht als die Schicksale ihrer Protagonistinnen deutet sich bereits in den Auftaktszenen an, wenn wir eine Vielzahl von Stimmen hören, die von den Schwierigkeiten berichten, die mit dem Leben in Mumbai einhergehen. Die Zeit vergehe hier in einer unheimlichen Geschwindigkeit, so heißt es von einer dieser Stimmen aus dem Off, während die Kamera nach Einbruch der Nacht einen Straßenmarkt am Rand des Hafens entlangfährt. Ehe man es sich versieht, ist man der Lebensjahre beraubt, erzählt eine der Stimmen weiter, als die Kamera schon weitergezogen und in die U-Bahn gestiegen ist, wozu eine somnambule Pianomelodie erklingt.
Insbesondere in diesen Eröffnungsmomenten zeigt sich, dass der Schritt vom Dokumentarischen zur Fiktion oft vielversprechender ist als der umgekehrte Karriereschritt, nicht zuletzt, weil die dokumentarische Form auf die Präzision der Beobachtungen angewiesen ist. Wenn wir etwa erstmals die Arbeitsstätte von Anu und Prabha betreten, sind es die kleinen Details, die uns auf distinkte Weise mit dem Krankenhaus vertraut machen — so zum Beispiel der Mann, der sich in der schwülen Hitze vor dem rotierenden Ventilator abkühlt, oder die Frau, die sich über Optionen zur Verhütung informiert (würde sich ihr Ehemann mit einer Vasektomie arrangieren, so würde der Staat ihm dies mit 1.000 Rupien vergüten).
Gehalten ist all dies zumeist in kühlem Blau. Eines Abends, nach einem langen Arbeitstag, erreicht die Zweier-WG von Anu und Prabha ein unerwartetes Paket, dessen Inhalt sich als ein Premium-Reiskocher herausstellt. „Made in Germany“, heißt es auf dem Etikett. Dass der wohl von Anus Ehemann stammt, liegt wohl auf der Hand. Aber warum schickt er ein solches Küchengerät, das immer auch für ein Zuhause steht, obwohl er sich seit über einem Jahr nicht einmal mehr telefonisch gemeldet hat. Was genau es mit Prabhas Ehe zum entfernt lebenden und namenlos bleibenden Mann auf sich hat, bleibt offen — auch, weil Prabha nicht gewillt ist, sich zu öffnen.
Und doch regt sich in den beiden zentralen Figuren irgendwann ein Widerstand, der sich etwa darin ausdrückt, dass sie eines Nachts mit Steinen auf das Werbeplakat eines Luxuswohnprojekts werfen, das die Anwohner*innen bald vertreiben wird. Eine davon ist Parvaty, eine Köchin aus dem Krankenhaus, die seit 22 Jahren undokumentiert in einem Wohnhaus lebt, das die örtliche Wohnbehörde nun abzureißen gedenkt. Prabha bietet ihr rechtliche Hilfe an, verweist sie an einen ihr bekannten Anwalt. Doch die Dinge liegen komplizierter, Parvatys Stolz, der sich mit der Gleichgültigkeit der Behörden nur weiter potenziert, verhindert ein Auflehnen.
Unterdessen setzt Anu alles daran, ungestörte Momente mit ihrem Freund Shiaz (Hridhu Haroon) zu genießen, die sich jedoch immer im Geheimen abspielen müssen. In einer der bewegendsten Szenen des Filmes begibt sich Anu eines Abends in die U-Bahn, um Shiaz zu einem geheimen Date in der Wohnung seiner Verwandten zu treffen, die aufgrund einer Hochzeit an diesem Abend leer stehen wird. Shiaz warnt Anu aber im Vorhinein: Sie müsse im Hidschāb erscheinen, andernfalls würden die Nachbarn im muslimischen Viertel Alarm schlagen.
Zumindest für einen Abend scheint sich auf diese Weise eine Auszeit zu ergeben. Doch als wir uns wenig später mit der bis auf die Augen Gesichts-verschleierten Anu in der U-Bahn wiederfinden, trudelt die Nachricht ein, dass das Date wortwörtlich ins Wasser falle. Die starken Regengüsse haben den öffentlichen Verkehr lahmgelegt, und mit ihm auch die Hochzeit. Die Enttäuschung und Traurigkeit, die sich in diesem Moment in den Augen Anus spiegeln, sind regelrecht greifbar, wenngleich auch nicht ohne Humor, als Anu sich, vor den Augen aller Mitfahrenden, des Hidschābs entledigt.
„Wie bin ich hierhergekommen?“, ist eine der zentralen Fragen, die, in Kontinuität zu den anonymen Eingangsstimmen aus dem Off, bald auftaucht und sich zu einem Echo weiterspinnt. Mumbai scheint zunehmend immer weniger gastfreundlich, erlaubt es Anu und Prabha immer weniger, an die „Stadt der Träume“ zu glauben. Kapadia stellt den zentralen Frauen der Geschichte allerdings eine Perspektive in Aussicht, die nicht ganz unähnlich ist zu einer Vision, wie sie zuletzt in Alice Rohrwachers „La Chimera“ zu sehen war.
Dort hatte eine Gruppe von Frauen ein altes Bahnhofsgebäude eingenommen und in diesem ein Kommunen-artiges Hausprojekt errichtet. Für Kapadia ist die Idee einer Raumaneignung ähnlich zentral, und obgleich weniger demonstrativ formuliert, vermutlich politisch noch weitaus gewichtiger. Wenn Anu und Prabha in der zweiten Hälfte von „All We Imagine As Light“ Parvaty auf ihrer Rückkehr in ihr Heimatdorf an der Küste begleiten, drückt sich darin eine entschiedene politische Gegenbewegung aus (schließlich ist es genau andersherum, da gehen gerade die Ehemänner vom Land in die Stadt, um ein Einkommen für ihre Familien zu sichern). Erst hier, so suggeriert Kapadia, lässt sich ein egalitäres Leben vorstellen. Und erst hier erreicht die Freundschaft, die sich bisher vor allem in weiblicher Solidarität ausdrückte, ein ganz neues Ausmaß der Vertrautheit.
Fazit: Payal Kapadias „All We Imagine As Light“ ist ein beeindruckendes Debüt, das auch durch ihre dokumentarische Beobachtungsgabe ein sozialrealistisches Porträt des heutigen Mumbais zeigt.