Die britische Antwort auf "Ich bin dann mal weg"
Von Karin JirsakWenn einer eine Pilgerreise tut, dann kann er im besten Fall alten Ballast abwerfen und dabei mal so richtig zu sich selbst finden. Dieses Narrativ ist uns gerade hierzulande bestens vertraut: Immerhin war Hape Kerkelings Reisetagebuch „Ich bin dann mal weg“ bei seinem Erscheinen 2006 tatsächlich unumgänglichen – und auch der dazugehörige Kinofilm hat 2015 mächtig Reibach gemacht.
Mit „Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry“ kommt nun sozusagen eine Brit-Variante des Themas in die Kinos (selbst wenn hier kein offizieller Pilgerpfad beschritten wird). Und tatsächlich ist das Beste an Hettie Macdonalds Verfilmung des gleichnamigen Romans von Rachel Joyce (» hier bei Amazon*) das unverwechselbare britische Moment, in der Verfilmung vor allem verkörpert von den wie immer ganz wunderbaren Jim Broadbent und Penelope Wilton in den Hauptrollen.
Harold Fry (Jim Broadbent) lernt beim Wandern eine Menge über sich selbst – einiges davon ist tief berührend, anderes erreicht aber auch nur plattes Kalenderspruchniveau.
„Es tut mir leid, alles Gute…“ Nur wenige Zeilen fallen Harold Fry (Jim Broadbent) als Reaktion ein, als er die traurige Nachricht einer alten Bekannten erhält: Queenie (Linda Bassett) ist unheilbar an Krebs erkrankt und bereitet sich in einem Hospiz auf den Abschied vor. Als der Pensionär seinen arg kurzen Brief zum Briefkasten trägt, überlegt er es sich deshalb anders. Lieber noch ein bisschen weitergehen und den Brief direkt zur Post bringen. Aber auch das fühlt sich irgendwie nicht richtig an. Schließlich fasst Harold einen gewagten Entschluss. Er muss zu Queenie, denn er hat noch etwas gut zu machen. Also geht er einfach weiter…
„Sagen Sie ihr, dass Harold Fry auf dem Weg zu ihr ist.“ Ein Anruf beim Hospiz, getätigt aus einer Telefonzelle, und dann geht’s zu Fuß von Devon nach Berwick upon Tweed. 500 Meilen in zerknautschten Wildleder-Slippern. Ohne Gepäck, ohne Abschied von seiner Gattin Maureen (Penelope Wilton). Als er die Reise antritt, wissen wir fast nichts über diesen (zunächst) einsamen Wanderer namens Harold Fry. Seine Geschichte enthüllt sich unterwegs und das ist dramaturgisch nicht unklug. Mit aufwühlenden Rückblenden kontrastiert Hettie Macdonald („Die erste Liebe“) die reinigende Monotonie des Gehens. So erfahren wir vom schwierigen Verhältnis von Harold und seinem einzigen Sohn David (Nich Caves Sohn Earl Cave). Obwohl es nicht wenige dieser Rückblenden gibt, bleibt die Beziehung dabei allerdings seltsam vage, ebenso wie Davids Probleme, die dazu noch arg klischeehaft ausfallen.
Sehr viel klarer als die gestörte Beziehung zum Sohn eröffnet sich die Innenwelt des Vaters. Mit buchstäblich jedem Schritt scheinen sich die Dinge im Kopf des Protagonisten zu ordnen – und dass wir an diesen inneren Vorgängen teilhaben können, ist vor allem der Verdienst des großartigen Jim Broadbent (Professor Slughorn aus den „Harry Potter“-Filmen). Anrührend auch seine Darstellung der Fragilität des Alters und der inneren Kraft, die Harold aufbringen muss, um seine Aufgabe trotzdem zu meistern.
„Du – wirst – nicht – sterben“, skandiert Harold stoisch im Rhythmus seines Marsches durch Regen und Sturm. Er verarztet seine Füße, macht Feuer im Wald und geht einfach weiter, die 500 Meilen nach Berwick upon Tweed, der nördlichsten Stadt Englands, wo Queenie im Hospiz auf ihn wartet. Welche Geschichte die beiden verbindet, erfahren Nicht-Leser*innen des Romans erst ganz zum Schluss: Eine Auflösung, die zwar überraschend, aber auch etwas konstruiert daherkommt.
Irgendwann ist Harold auf seiner Pilgerreise nicht länger allein – stattdessen scharen sich wie einst in „Forrest Gump“ haufenweise Mitwandernde um ihn.
Dem Pilgerer zur Seite steht Ehefrau Maureen, mehr oder weniger jedenfalls. Im leeren Eigenheim zurückgelassen, sucht die Seniorin aus der Ferne etwas ratlos nach ihrem Platz in Harolds großem Abenteuer. Dieser Selbstfindungsprozess wird von Penelope Wilton („Downton Abbey“) ebenso bestechend natürlich dargestellt wie Harolds Reise zurück in die eigene Mitte. Ebenfalls sehr schön die mal raue, mal pittoreske britische Landschaft, die auf dem Weg zur Läuterung – und um nichts weniger geht es hier – vom tiefsten Süden in den höchsten Norden durchlaufen werden muss.
Am Wegesrand warten natürlich auch so einige schicksalhafte Begegnungen und Erkenntnisse, die zu einer solchen Pilgerreise ebenso dazugehören wie fiese Blasen und schlimmes Wetter. Neben einer recht frechen „Forrest Gump“-Reminiszenz mischt sich dabei auch der eine oder andere kitschig-esoterische Moment als Irritation in diese fiktionale Chronik einer Wanderung. Oder, um es mit den Worten der Hospizschwester zu sagen: „Vielleicht ist es das, was die Welt jetzt braucht. Weniger Verstand, mehr Glauben.“ Wer mit solchen Phrasen keine Probleme hat, darf sich getrost mit Harold auf die Reise machen…
Fazit: Pilgern ohne Jakobsweg – die Brit-Stars Jim Broadbent und Penelope Wilton veredeln das manchmal rührende, manchmal kitschige Wander-Roadmovie mit großer emotionaler Authentizität. So tragen vor allem die beiden Stars die Verfilmung von Rachel Joyces Roman über so manches erzählerische Schlagloch hinweg.
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