Die Dardennes suchen weiter nach ihrem verlorenen Mojo
Von Christoph PetersenMit ihren Filmen haben Jean-Pierre und Luc Dardenne schon zwei Mal die Goldene Palme in Cannes gewonnen (1999 für „Rosetta“, 2005 für „Das Kind“). Mit ihrem unverkennbar-naturalistischen Stil gelang es den belgischen Brüdern zwei Jahrzehnte lang, aus vermeintlich simplen Prämissen ein Maximum an Eindringlichkeit und Menschlichkeit herauszuholen. Aber seitdem sie 2014 mit „Zwei Tage, eine Nacht“ ihren bisher größten Arthouse-Hit gelandet haben, scheinen sie ein Stück weit ihr Mojo verloren zu haben:
Auf das moralinsaure Krimi-Drama „Das unbekannte Mädchen“ folgte mit dem völlig fehlgeleiteten Teenager-Terroristen-Porträt „Young Ahmed“ der bisherige Tiefpunkt ihrer Karriere. Ihr 12. Spielfilm „Tori And Lokita“ ist nun zumindest wieder ein bisschen besser. Es wirkt aber dennoch ein wenig verzweifelt, welche (manipulativen) Mittel die früher noch so reduzierten Dardennes inzwischen auffahren (müssen), um die gewollten Emotionen aus ihrem Publikum herauszupressen.
Lokita (Joely Mbundu) und Tori (Pablo Schils) haben sich geschworen zusammenzuhalten – komme, was wolle…
Lokita (Joely Mbundu) ist aus Westafrika geflüchtet, um ihrer Mutter Geld für den Schulbesuch ihrer fünf Geschwister schicken zu können. Allerdings hat sie aus rein wirtschaftlichen Gründen kein eigenes Anrecht auf Asyl, weshalb sie sich als ältere Schwester des ein paar Jahre jüngeren Tori (Pablo Schils) ausgibt. Der müsste in seiner Heimat als sogenanntes „Sorcerer-Child“ nämlich tatsächlich mit dem Tod rechnen und hat seine Papiere deshalb auch schon bekommen. Während sich die „Geschwister“ mit dem Ausliefern von Drogen über Wasser halten, wird Lokita immer wieder von skeptischen Beamt*innen gegrillt.
Als ein DNA-Test endgültige Klarheit bringen soll, sieht Lokita keine andere Chance mehr, als abzutauchen und sich auf anderem Wege Papiere zu besorgen: Sie bezieht einen Bunker, in dem sie sich als Gegenleistung für einen gefälschten Pass um eine unterirdische Drogenplantage kümmern soll – ohne Handy oder sonstigen Kontakt zur Außenwelt. Doch Tori findet trotzdem einen Weg, um wieder zu seiner Schwester zu kommen – und gemeinsam schmieden sie einen Plan, um genügend Geld für Lokitas Familie zu verdienen…
Man schließt die beiden Titelheld*innen sofort ins Herz: Tori und Lokita, wie oft bei den Dardennes von Laien verkörpert, halten auf Biegen und Brechen zusammen. Nach den ersten Rückschlägen rappeln sie sich direkt wieder auf, verfolgen resolut und geradlinig ihren Plan. Auf den Kopf gefallen sind sie jedenfalls nicht, stattdessen offenbart sich in ihren Reaktionen eine intuitive Schläue, die in der Regel nur Menschen haben, die bereits eine Menge durchgemacht haben. Lokita muss jederzeit mit sexuellen Übergriffen rechnen und sogar um ihr Leben bangen – und trotzdem nimmt es zwischendrin fast schon märchenhafte Züge an, wie pfiffig sich die beiden gegen das staatliche System und die kriminelle Unterwelt zur Wehr setzen.
Doch „Tori And Lokita“ ist einer dieser Filme, bei denen den Protagonist*innen vom wenig subtilen Drehbuch so lange immer neue Nackenschläge verpasst werden, bis sie auch wirklich regungslos am Boden liegenbleiben, ganz egal, wie oft sich zwischendrin wieder aufgerappelt haben. So schlägt das intensive Mitbangen leicht irgendwann in das unschöne Gefühl um, hier mit simplen Mitteln manipuliert zu werden. Ambivalenzen oder Grauzonen sucht man vergebens, stattdessen besteht die Dramaturgie allein daraus, den ohnehin schon genug Gebeutelten noch einen weiteren Ziegelstein in den Rucksack zu stecken.
Um ihren Familien Geld schicken zu können, liefern Lokita und Tori für einen Pizzabäcker Drogen an seine Kundschaft aus.
Aus dieser Perspektive ist auch das Finale, das mit Sicherheit alle Diskussionen nach dem Film dominieren wird, absolut folgerichtig: Wenn man zu diesem Zeitpunkt noch immer so nah an den Hauptfiguren dran ist wie Benoît Dervaux mit seiner Handkamera, dann wird es einem mit aller Brutalität den Boden unter den Füßen wegreißen. Fragt man sich da aber bereits wie der Autor dieser Zeilen, ob die Dardennes hier wirklich „fair“ spielen oder einfach nur eine Katastrophe auf die andere stapeln, um ihre Figuren (und mit ihnen das Publikum) fertigzumachen, dann ist das der Moment, wo man endgültig aussteigt…
Fazit: Tori und Lokita sind zwei saustarke Hauptfiguren, denen man augenblicklich beide Daumen drückt. Aber statt das dramatische Potenzial aus der eh schon bedrückenden Ausgangssituation zu entwickeln, lassen die Dardennes eine Katastrophe nach der anderen auf ihre jungen Held*innen niederprasseln. Das findet man entweder wahnsinnig intensiv – oder aber, wie es leider mir ergangen ist, enttäuschend manipulativ.
Wir haben „Tori And Lokita“ auf dem Filmfestival in Cannes 2022 gesehen, wo er als Teil des Offiziellen Wettbewerbs gezeigt und mit einem einmaligen Spezialpreis anlässlich des 75. Cannes-Jubiläums wurde.