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    Die Aussprache
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,5
    durchschnittlich
    Die Aussprache

    Eine Revolution sieht anders aus

    Von Lucas Barwenczik

    Im August 2011 wurde weltweit über die schrecklichen Verbrechen einer Gruppe konservativer Mennoniten in Bolivien berichtet. Sieben Männer hatten über 100 Frauen aus ihrer kleinen, strenggläubigen Gemeinde unter Drogen gesetzt und vergewaltigt. 2018 schrieb die kanadische Autorin Miriam Towes basierend auf diesen Ereignissen den Roman „Women Talking“, den jetzt die ebenfalls kanadische Regisseurin Sarah Polley („Take This Waltz“) verfilmt hat. Es handelt sich also zweifellos um ein ernstes, abgründiges und politisch brisantes Thema. Doch kann man derart grotesken Verbrechen wirklich mit steifer, biederer Prestige-Unterhaltung begegnen? „Die Aussprache“ stößt unentwegt an Grenzen, die sich das Drama selbst gesetzt hat.

    Es wird darin nicht unbedingt eine komplexe Geschichte erzählt, sondern vor allem eine ausufernde Diskussion begleitet: Eine verschworene Gruppe von acht Frauen trifft sich auf dem Heuboden einer Scheune, um die entscheidende Frage zu klären, was nun zu tun ist? Gerade erst konnten sie den Männern ihre Übergriffe nachweisen und sie verhaften lassen, doch schon bald schon werden sie von der Polizeistation zurückkehren. Wie sollen sie sich dann gegenüber ihren Peinigern verhalten? Drei Optionen stehen zur Auswahl: Bleiben, Fliehen oder Kämpfen. Jede der Frauen leidet auf ihre Weise – und hat dementsprechend eine andere Position: Ona (Rooney Mara) ist schwanger von einem der Täter, Mariche (Jessie Buckley) buckelt vor ihrem gewalttätigen Ehemann Klaas. Die kämpferische Salome (Claire Foy) hat eines der Monster mit einer Sense attackiert und wird dafür möglicherweise bestraft. Der einzige anwesende Mann ist August Epp (Ben Whishaw), der Protokoll führt…

    So viel geballtes Schauspie-Talent wie in "Die Aussprache" sieht man selten in einer Einstellung...

    Man kann dem Film angesichts des Themas schwerlich seine Ernsthaftigkeit vorwerfen. Die Frage, wie andächtig und pathetisch von schrecklichen Verbrechen erzählt werden sollte, ist nie leicht zu beantworten. „Die Aussprache“ wirkt jedoch in nahezu jeder Hinsicht unentschlossen und halbherzig. Schon früh entsteht der Eindruck, es handle sich um eine Theater-Adaption. Der Heuboden bleibt der zentrale Schauplatz und wird vor allem in Flashbacks verlassen. Derart beschränkte Räumlichkeiten sind immer eine Herausforderung für Filmschaffende – und auch Polley ringt ein wenig verzweifelt um Dynamik und Abwechslung. Eine Handvoll ungewöhnlicher Kameraperspektiven brechen nicht die visuelle Monotonie auf. Die langsame Verschiebung von Porträtaufnahmen hin zu großen Gruppen-Bildern erzählt zumindest von der wachsenden Solidarität unter den Frauen.

    Natürlich könnte man die Kammerspiel-Logik des Films auch als Metapher für ihre beengten Leben verstehen. Doch der Film ist nicht konsequent genug, um den Zuschauer diese Enge spüren zu lassen. Immer wieder wird auf in Feldern spielende Kinder geschnitten, auf leere Küchen und Wohnstuben. Diese oft von schwülstiger Musik begleiteten Montagen wirken wie künstliche Geschmacksverstärker für die Ästhetik des Films. Eindrucksvoll hingegen ist die Präsenz der dreifachen Oscargewinnerin Frances McDormand („Nomadland“), die in ihrer kleinen Rolle als Scarface Janz vor allem ein starres, wie aus Holz gehauenes Gesicht in die Kamera hält. So erzählt sie mehr über weibliches Leid als viele der etwas gleichförmigen Wortwechsel.

    Zu sehr in Richtung Oscars geschielt

    Denn den Dialogen – immerhin das Kernstück des Films – mangelt es an Raffinesse. Einzelne Gesprächspassagen ergeben nie mehr als die Summe ihrer Teile, nur selten baut ein Abschnitt auf einem anderen auf. Wichtiger als der Inhalt ist die ergreifende Wirkung, im Abstand von fünf bis zehn Minuten gehen Figuren zu dramatischen Oscar-Monologen über. Spätestens beim dritten langsamen Zoom auf ein angespanntes Hollywood-Gesicht verliert dieser Trick seine Wirkung. Die begabten Darstellerinnen finden sich im engen Korsett nur grob umrissener Persönlichkeiten wieder, aus denen sie selten ausbrechen können. Und die eigentlich interessanten Diskussionen um Vergebung und Rache, Risiken und Chancen, Glauben und Zweifel haben so schnell alle möglichen Konstellationen durchgespielt. Dann wirken alle Figuren wie die ältere Dame, die immer wieder Gleichnisse über ihre Pferde Ruth und Cheryl einwirft und dafür ein wenig belächelt wird.

    Diese Art von Humor ist fast ein wenig bemutternd gegenüber dem Publikum. Gags werden ausgeteilt wie Süßigkeiten beim Kinderarzt: Hier, ein Witz, weil ihr diese Schilderung menschlichen Leids so mutig ertragen habt. Kalte und warmherzige Moment zerfließen zu einer lauwarmen Erfahrungsbrühe. Das drückt sich auch visuell aus: Polley und ihr Kameramann Luc Montpellier halten den Film in gedeckten, entsättigten Farben. Die dunklen Gewänder der Frauen erzeugen Begräbnis-Atmosphäre, und auch die Bilder selbst tragen Trauer. „Die Aussprache“ wäre wohl eigentlich gerne in Schwarz-Weiß, ist es dann aber höchstens auf politischer Eben.

    Rooney Mara (Mitte) werden von allen Schauspielerinnen im Film die besten Oscar-Chancen eingeräumt.

    Denn tatsächlich gleicht sich das Drama stark seinen religiösen Figuren an und verwandelt die simple Prämisse in eine Art biblische Parabel. Derart allgemein und unspezifisch gehalten, öffnet sie sich für eine Vielzahl von Interpretationen und Vergleichen. Gerade die Diskussion um die #MeToo-Bewegung drängt sich als Vergleichspunkt auf. Die kleine Gemeinde wird zum Symbol für das gesamtgesellschaftliche Klima, für patriarchale Gewalt und die Notwendigkeit für Veränderung. Das ist gut und wichtig, aber hat der gesellschaftlichen Debatte eigentlich wenig Neues hinzuzufügen. Dafür ist der Film zu vage, zu stromlinienförmig. Er setzt keine neuen Akzente, sondern paraphrasiert noch einmal, was ohnehin schon im Raum stand. Eingangs beschreibt eine Texteinblendung das Drama als einen „Akt der weiblichen Fantasie“, wobei es gerade an Fantasie mangelt. An neuen Pfaden und fernen Träumen. Eine Revolution sieht anders aus.

    Fazit: Träges Schauspielkino, das patriarchale Schrecken zu gediegener Salon-Unterhaltung veredelt. „Die Aussprache“ ist eine Aneinanderreihung großer Schauspielmomente, die einander eher behindern als ergänzen, und eine Sammlung kleiner, zaudernder Antworten auf viel zu große Fragen.

    Wir haben „Die Aussprache“ beim Film Festival Cologne 2022 gesehen.

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