Als Hitler die kindliche Unschuld stahl
Von Markus TschiedertEtwa 82 Millionen Menschen sind heutzutage weltweit auf Flucht, 34 Millionen davon sind Kinder. Mit dieser niederschmetternden Information endet das aus einer kindlichen Perspektive gedrehte Historiendrama „Der Pfad“ nach dem gleichnamigen, auf einer wahren Geschichte basierende Roman von Rüdiger Bertram. Die deutsch-spanische Koproduktion führt uns zurück in eine Zeit, als die Nationalsozialisten ganz Europa drangsalierten. Jene, die mit dem Nazi-Regime nicht konform gingen oder von ihm verfolgt wurden, flohen aus Deutschland auf der Suche nach einer neuen Heimat.
Wie fad es sich insbesondere für ein Kind anfühlt, plötzlich selbst ein ‚Flüchtling‘ zu sein, alles verloren zu haben und ums nackte Leben zu kämpfen, vermittelt Regisseur Tobias Wiemann („Amelie rennt“) auf eindringliche Weise – vor allem auch dank Julius Weckauf, der durch seine erfrischend-freche Darstellung des halbwüchsigen Hape Kerkeling in „Der Junge muss an die frische Luft“ vor drei Jahren zum Kinderstar avancierte.
Zunächst tritt Rolf (Julius Weckauf) die Flucht nach Amerika noch gemeinsam mit seinem Vater (Volker Bruch) an ...
Ende der Dreißigerjahre flieht der 12-jährige Rolf (Julius Weckauf) mit seinen Eltern Katja (Anna María Mühe) und Ludwig Kirsch (Volker Bruch) vor den Nazis von Berlin nach Paris. Ludwig ist Journalist und steht wegen seiner regimekritischen Haltung auf der schwarzen Liste. Ihm droht Gefängnis und gewiss auch der Tod, sollte es die Familie nicht aus Europa herausschaffen.
Katja bekommt eine Überfahrt nach New York, während Vater und Sohn von Südfrankreich nach Spanien weiterreisen. Über die Pyrenäen wollen sie zu Fuß bis nach Lissabon, um von dort mit einem Schiff nach Amerika zu kommen. Ein tapferes Mädchen namens Nuria (Nonna Cardoner) kennt den Weg und führt die beiden. Doch unterwegs wird der Vater verhaftet und die Kinder sind fortan auf sich allein gestellt, den beschwerlichen Pfad zu Ende zu gehen…
Was als einnehmendes Familiendrama beginnt, entwickelt sich ab diesem Punkt zu einer Coming-of-Age-Geschichte, bei der auch mit den Mitteln des Abenteuer- und Kriegsfilms gearbeitet wird. Etwa wenn die beiden ungefähr gleichaltrigen Kids mit der rauen Natur konfrontiert werden, im Wald auf Partisanen treffen und immer wieder vor feindlichen Soldaten ausweichen müssen. Da darf mehr als einmal mitgefiebert werden und Tobias Wiemann dreht trotzdem so behutsam an der Spannungsschraube, dass es auch Sechsjährige auszuhalten vermögen.
Überhaupt ist es die Stärke des Films, dass nie die kindliche Perspektive verloren geht. Selbst wenn Protagonist und Protagonistin mit den Auswirkungen einer dunklen Zeit konfrontiert werden, kriegerische Kämpfe, Verlust und gar den Tod kennenlernen, behalten kindliche Unschuld und Unbefangenheit die Oberhand, was sie wiederum mehr als nur einmal erneut in Gefahr bringt. Der Film bleibt trotz Kugelhagel und Bombenangriffen bei seiner unbeschwerten und somit hoffnungsvollen Grundstimmung.
... aber dann muss er sich irgendwann gemeinsam mit der gleichaltrigen Nuria (Nonna Cardoner) ohne die Hilfe von Erwachsenen durchschlagen.
Hin und wieder gibt es auch amüsante Szenen. Dafür sorgt allein schon ein kleiner niedlicher Hund namens Adi, der nicht nur für den Running Gag herhalten muss, ob sein Name nicht doch eine Verniedlichung von Adolf ist, sondern auch mal zum Retter, mal zum Streitpunkt zwischen Vater und Sohn mutiert. Das Drehbuch schrieb Romanautor Rüdiger Bertram übrigens zusammen mit der Schauspielerin und Drehbuchschreiberin Jytte-Merle Böhrnsen („Es ist nur eine Phase, Hase“) zwar selbst, aber einige Veränderungen zu der 2018 veröffentliche Originalstory gibt es trotzdem:
Die Bedeutsamste ist sicherlich, dass es im Film kein Hirtenjunge mehr ist, der zum Wegbegleiter wird, sondern ein Mädchen. Das beinhaltet mehr Konfliktpotential (Jungen und Mädchen sind sich mit zwölf Jahren eben noch nicht so ganz grün) und vergrößert zudem auch die Zielgruppe. Die von Nonna Cardoner gespielte Nuria ist anfangs sehr viel ernster und barscher als der fröhliche und zarte Großstadtjunge. Natürlich nähern sich die beiden an, ergänzen sich, lernen voneinander. Er wird ein Stückchen erwachsener, sie gewinnt ein Stückchen kindliche Ausgelassenheit zurück.
Streckenweise erinnert „Der Pfad“ an Steven Spielbergs Verfilmung von J.G. Ballards „Das Reich der Sonne“, in der 1987 der damals erst 13-jährige Christian Bale elternlos in die Wirren des Zweiten Weltkriegs geriet. Aber da es in „Der Pfad“ nicht wirklich um von Kindern erlittene Kriegstraumata geht …
… lässt sich der Film in seiner Behutsamkeit am ehesten noch mit Caroline Links Umsetzung von Judith Kerrs „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ (2019) vergleichen. Das jüngere Publikum soll durch allzu drastische Kriegsszenerien nicht abgeschreckt werden. In „Der Pfad“ selbst wird hingegen wiederholt ein ganz anderer Kinderbuch-Klassiker zitiert: Erich Kästners „Der 35. Mai“ – als symbolischer Hinweis, dass gerade Kinder ein Recht auf Unbefangenheit haben und Kriege die Menschlichkeit zerstören.
Fazit: Es ist gewiss keine leichte Aufgabe, einerseits den Schrecken des Krieges darzustellen, andererseits aber auch die kindliche Leichtigkeit hochzuhalten. Regisseur Tobias Wiemann hat mit seiner Romanadaption „Der Pfad“ aber einen guten Weg gefunden, beides so miteinander zu verflechten, dass ihm nicht nur ein jüngeres Publikum gerne auf diesem Pfad begleiten wird.