Eine wunderschöne Liebesgeschichte – begraben unter einem zeitgeistigen Schlagwortwust
Von Jochen WernerAktivistin möchte sie werden, sagt Lena (Josefa Heinsius) einmal, woraufhin ihr Gastvater Anthar (Jalal Altawil), der als arabischstämmiger Franzose für die Europäische Union arbeitet, das junge deutsche Mädchen fragt, wofür (oder wogegen) sie denn aktiv sein möchte. Allerlei fiele ihr da ein, erwidert Lena. Klimawandel, Neofeminismus, der Kampf gegen Faschismus und Rechtspopulismus, und noch drei, vier andere Stichworte rattert sie herunter, und es klingt ein bisschen nach: Dieses & Jenes. Man denkt an Marlon Brando, der die Frage, wogegen er denn rebelliere, in einer legendären Szene von „Der Wilde“ lässig konterte mit: „Was hast du denn anzubieten?“ Ironisch gebrochen ist der zitierte Dialog in Claire Burgers „Langue Étrangère“ allerdings eher nicht, auch wenn die Elterngeneration, hier prominent besetzt mit Nina Hoss als deutsche Alkoholikermutter Susanne und Chiara Mastroianni als französische Helikoptermutter Antonia, nicht nur eine ganze Reihe von Dysfunktionalitäten im Angebot hat, sondern auch gerne mal über die politisch korrekten, veganen Nachkommen spottet.
„Langue Étrangère“ ist ein Schülerinnenaustauschfilm, und seine Erzählung ist in zwei Hälften geteilt. Alles beginnt mit der Ankunft der psychisch labilen Teenagerin Fanny (Lilith Grasmug) am Leipziger Hauptbahnhof, wo sie zunächst einmal allein mit Gastmutter Susanne dasteht. Tochter Lena nämlich ist gar nicht so begeistert von ihrer transnationalen Schwester auf Zeit. Brieffreundinnen waren die beiden eine Zeitlang – und mit das Erste, was Lena Fanny mitteilt, ist, dass es ihretwegen auch gerne dabei hätte bleiben können. Auch Fanny wollte eigentlich gar nicht kommen, wurde aber, weil sie in der Schule gemobbt wird und bereits einen Suizidversuch hinter sich hat, von ihrer überbehütenden Mutter zu diesem Tapetenwechsel gedrängt.
Nicht unbedingt eine Wunschkonstellation also, in der sich die beiden 17-jährigen Mädchen hier wiederfinden, und doch beginnen sie rasch, sich anzufreunden. Die schüchterne Fanny ist zunehmend beeindruckt von der selbstbewussten, rebellischen Lena und öffnet sich dieser gegenüber – obwohl sie als Zaungast auch in eine Reihe von zunehmend eskalierenden Familiendramen rund um eine Eifersuchtsgeschichte mit Susannes Exfreund Tobias (Robert Gwisdek) und einen europafeindlichen AfD-Opa gerät. Und schlussendlich kommen sich die beiden Mädchen dann auch körperlich immer näher, anfangs noch in einer fröhlichen Dreierkonstellation mit einem von Lenas Freunden und unter Einfluss von psychedelischen Pilzen mit Schokoladenguss, später dann auch im intimeren Zweierrahmen.
Dieser Teil von „Langue Étrangère“ funktioniert mit Abstand am besten und man hätte gerne noch viel mehr davon gesehen. Die beiden Hauptdarstellerinnen harmonieren wunderbar miteinander und erfüllen ihre Rollen mit Leben, Charme und Charisma – wenn sie nicht gerade mal wieder einen der vielen, vielen bleischwer-didaktischen Dialoge aufsagen müssen, mit denen Regisseurin Claire Burger das gemeinsam mit Léa Mysius (selbst Regisseurin, u.a. von den vielgelobten Filmen „Ava“ und „The Five Devils“) verfasste Drehbuch überlädt. Denn über weite Strecken ist „Langue Étrangére“ leider ein Film, der allerlei zu erklären hat, zur deutsch-französischen Freundschaft, zur friedlichen Revolution und dem Ende der DDR, zum erstarkenden Rechtspopulismus in Ostdeutschland, Frankreich und der Europäischen Union. Das macht er nicht nur auf wahnsinnig plumpe, pädagogische Art, sondern stellenweise geradezu touristisch.
In der ersten Hälfte erläutert Lena in Leipzig wie eine Stadtführerin die Geschichte der „inzwischen leider von rechts vereinnahmten“ Montagsdemonstrationen an Originalschauplätzen, während im zweiten Teil dann in Straßburg eine Tour durchs Europaparlament auf dem Plan steht. Fannys Mutter Antonia arbeitet dort als Übersetzerin – ja, trotz moralischer Bedenken auch für rechte Politiker*innen, denn so funktioniert Demokratie und da könne man mit einer pointierten Übersetzung umso mehr bewirken, abschwächen oder offenlegen. „Langue Étrangère“ wirkt passagenweise wie ein Remake von Cédric Klapischs in den europabegeisterten Nullerjahren zum kleinen Kultfilm für Teilnehmer*innen des Erasmus-Studentenaustauschprogramms avancierten „L’auberge Espagnole – Barcelona für ein Jahr“. Produziert allerdings von der Bundeszentrale für politische Bildung.
In diesen weder gehaltvollen noch originellen politischen Exkursen wirft Burgers Film uns zwar allerlei vor die Füße, was im aktuellen gesellschaftlichen Diskurs eine Rolle spielt – Wiedervereinigung, Pegida, AfD, Fridays for Future, Antifa, Gelbwesten und Europaparlament –, aber narrativ fällt ihm dazu nicht mehr ein, als ein bloßes Stichwortbingo ohne jede Substanz zu betreiben. Sein unbedingtes Bestreben zur zeitgeschichtlichen Verortung – einen eigenen aktivistischen Gestus mag man Burger kaum wirklich unterstellen, dafür hakt sie diese Diskurspunkte viel zu lustlos einen nach dem anderen ab – legt sich wie ein schwerer Rucksack auf die Schultern der durch und durch liebenswerten Teenagerliebesgeschichte, die eigentlich im Zentrum von „Langue Étrangère“ steht.
Diese Geschichte einer jugendlichen lesbischen Liebe knüpft direkt an einen früheren, viel besseren Film von Claire Burger an. In „Real Love“ (2018) erzählte sie ein berührendes Familiendrama, in dem sie die (letztlich unerwiderte) Coming-(out)-of-Age-Erfahrung der jüngsten Tochter zwar zum Zentrum machte, aber jeder Figur ihre eigene Geschichte und ihren eigenen emotionalen Resonanzraum gab. Dieses Nebeneinander verschiedener Erzählstränge, aus denen das emotional komplexe Porträt einer Scheidungsfamilie entstand, besteht hier noch nur als bloßer Bauplan, der nie mit Leben erfüllt wird. Susannes Alkoholismus und Anthars Affäre, die Patchwork-Konstellation mit Exfreund Tobias und dessen Kindern aus einer früheren Beziehung ebenso wie die vom Opa an der Kaffeetafel geklopften Sprüche aus dem „Mit Rechten reden“-Lehrbuch – all das bleibt bloße Behauptung, um ein paar Plot Points als teils gesellschaftspolitische, teils melodramatische Talking Points abzufrühstücken.
Auch der große psychologische Dreh des Films wirkt aufgesetzt und unnötig, wenngleich man zumindest spürt, dass Burger ihn zur Forcierung einer gewissen Figurentiefe etwas ernster nimmt als all das „Blabla“ – diesen boshaften Spitznamen verleihen ihre mobbenden Mitschülerinnen der geplagten Fanny, und man könnte fast meinen, das sei auch als boshafter Seitenhieb auf die diskursive Geschwätzigkeit des eigenen Skripts gemeint. Aber eigentlich gibt es gar keinen Grund, Fanny unbedingt eine Mythomanie – den pathologischen Zwang zu lügen und sich immer neue Geschichten auszudenken, um die eigene, vermeintlich langweilige Persönlichkeit in aufregenderem Licht erscheinen zu lassen – anzudichten.
An dem Punkt, an dem uns dieser halbherzige Twist aufgetischt wird, fragt man sich dann ernstlich, warum das, was ohnehin schon auch alles da ist in diesem Film, hier anscheinend einfach nicht genügt hat: Zwei Teenagerinnen, eine selbstbewusst, die andere schüchtern und blockiert, und der Ausbruch aus dem eigenen Gefängnis mithilfe von Liebe, Sex und psychedelischen Drogen mit Schokoladenguss. Wann hätte es denn je mehr gebraucht für einen schönen, wahrhaftigen Coming-of-Age-Film?
Fazit: Die dritte Regiearbeit der hochbegabten französischen Regisseurin Claire Burger ist eine Enttäuschung. Im Kern des Schülerinnenaustauschfilms steckt zwar eine überaus charmante, von zwei hervorragenden Hauptdarstellerinnen mit Leben gefüllte lesbische Liebesgeschichte. Leider wird diese aber von einem Wust an bleischwer aufgesagten, völlig substanzlosen Dialogen rund um aktuelle politische Debattierfelder von vornherein abgetötet. Stattdessen wird „Langue Étrangère“ passagenweise zum schulfernsehhaften Werbefilm für das Europaparlament.
Wir haben „Langue Étrangère“ im Rahmen der Berlinale 2024 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.