Survival-Horror, der einem den Boden wegzieht
Von Oliver KubeIm Jahr 2008 befand sich der kanadische Regisseur, Produzent und Drehbuchautor Shawn Linden mit seinem ersten Langfilm „Nobody“ auf Festivaltournee. Auf dem Weg zu einem großen Event in Belgien wurde sein Flugzeug aufgrund eines schweren Sturms über Brüssel nach Deutschland umgeleitet. Da in der hiesigen Stadt, deren Namen er heute nicht mehr weiß, offenbar alle Hotels ausgebucht waren, wurde er von der Fluggesellschaft zu einer etwas abgelegenen Pension auf dem Lande kutschiert. Dabei fuhr der Kleinbus durch einen Wald, der nahezu komplett im Nebel lag.
Dieses Bild stimulierte die Fantasie des jungen Filmemachers so sehr, dass er in der Nacht kein Auge mehr zu bekam. Stattdessen setzte er sich in seinem Zimmer hin und schrieb den Grundstock dessen, was nun viele Jahre später sein dritter Film geworden ist. In dem Survival-Horror „Hunter Hunter“, der seine Deutschlandpremiere auf dem Fantasy Filmfest feiert, geht es vor allem um Raubtiere, solche mit Fell und ohne. Da er sich beim Schreiben auf deutschem Boden befand, schimmern bei dem sich clever in ungeahnte Richtungen entwickelnden Indie-Schocker auch Motive einiger Grimm’scher Märchen durch, die ja schon in ihrer Urform bekanntlich ganz schön gruselig sein können.
Renée (Summer H. Howell) schaut zu ihrem Vater Joseph (Devon Sawa) auf.
Joseph Mersault (Devon Sawa), seine Ehefrau Anne (Camille Sullivan) und ihre 13-jährige Tochter Renée (Summer H. Howell) führen ein entbehrungsreiches Leben als Fallensteller und Pelzjäger in der bewaldeten Wildnis der kanadischen Provinz Manitoba. Das mit ihrer extrem harten Arbeit verdiente Geld ist ohnehin schon viel zu knapp, als dann auch noch ein Wolf in ihrem Jagdgebiet sein Unwesen treibt und immer wieder die in den Fallen gefangenen Kleintiere stiehlt. Um selbst überleben zu können, beschließt Joseph, den vierbeinigen Räuber zu töten.
Auf der Pirsch nach dem Wolf entdeckt er dann allerdings im Wald die Leichen von mehreren jungen Frauen, die offenbar nach einem seltsamen Ritual ermordet wurden. Die Polizei kann Joseph nicht alarmieren, da er mit seiner Familie illegal auf Regierungsland lebt und keine weiteren Probleme gebrauchen kann. Aus Sorge um Anne und Renée versucht er deshalb den Serienkiller selbst zur Strecke zu bringen. Während ihr Mann sich tagelang nicht blicken lässt, findet seine Gattin den schwerverletzten Naturfotografen Lou (Nick Stahl) im Unterholz…
Die prekären Lebensumstände der Mersaults werden angenehm authentisch geschildert. Lediglich der CGI-Wolf ist ziemlich mies getroffen, was aber vor allem dem begrenzten Budget geschuldet sein dürfte. „Final Destination“-Star Devon Sawa spielt Joseph als strengen und unnachgiebigen, gegenüber seinem Mädchen aber durchaus auch liebevollen Mann. Renée schaut uneingeschränkt zu ihm auf, will unbedingt wie er sein; nicht zuletzt, weil sie gar kein anderes Leben kennt. So erinnert die Vater-/Tochter-Beziehung nicht nur wegen des Abseits-der-Zivilisation-Lifestyles sofort an das meisterhafte Aussteiger-Drama „Leave No Trace“ – selbst wenn „Hunter Hunter“ anschließend natürlich einen ganz anderen Verlauf nimmt.
Trotzdem ist die von Camille Sullivan verkörperte Ehefrau/Mutter klar der vielschichtigste Charakter. Sie steht immer etwas außen vor. Nicht nur, weil sie nicht mit auf die Jagd geht, sondern zu Hause die Wäsche erledigt oder mit ihrem uralten Truck in die nächste Stadt fährt, um die Felle gegen Vorräte zu tauschen. Sie ist es auch, die trotz ihrer Loyalität gegenüber Joseph immer wieder am Lebensstil der Familie zweifelt und sich Gedanken macht, ob sie nicht vielleicht doch aufgeben und in ein geregeltes Dasein zurückkehren sollten; auch um der Tochter eine Schulbildung bieten zu können. Diese Zerrissenheit wird von Sullivan sehr glaubhaft vermittelt. So kaufen wir ihr später auch die Entwicklung, die Anne im letzten Teil des Filmes durchmacht, problemlos ab.
Der Naturfotograf Lou (Nick Stahl) scheint etwas zu verheimlichen...
Der bloße Thriller-Plot ist hingegen längst nicht so komplex wie die Figuren. Die Identität des Killers dürfte hier für kaum jemanden, der schon mal einen Film aus diesem Genre gesehen hat, einen kolossalen Twist darstellen. Was allerdings völlig okay ist. Denn es gibt noch eine ganz andere Überraschung, die dann auch wirklich volle Kanne reinhaut! Bis kurz vor Schluss ist „Hunter Hunter“ ein düsterer, betont langsam die Spannungsschraube anziehender Survival-Thriller, gewürzt mit einer gehörigen Portion Familien- und Sozialdrama. Dann erst, zu den alle Geräusche und Dialoge übertönenden, brillant gewählten Klängen der dänischen Post-Punkband Tales Of Murder And Dust, kippt der Film in Richtung Horror – und zwar in einer Extremität, wie sie wohl nur die wenigsten erwartet haben dürften.
Was hier, von „Possessor“- und „It Comes At Night“-Cutter Matthew Hannam verdammt effektiv geschnitten, in Sachen Gore geboten wird, verlangt dem Publikum stählerne Nerven und einen starken Magen ab. Shawn Linden spielt bis dahin im Slowburner-Stil mit den Erwartungen der Zuschauer*innen, nur um uns dann mit dem Finale gnadenlos den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Das Ende ist gerade deshalb so schockierend, weil es gefühlt aus dem Nichts kommt. Auch wenn es natürlich einige klare Vorzeichen gab, die man als Zuschauer*in aber vermutlich erst im Nachhinein als solche erkennt.
Fazit: „Hunter Hunter“ entwickelt sich vom betulichem Survival-Drama zum toughen Thriller und schließlich zum deftigen Horror-Massaker. Ein Slowburner für nicht allzu zartbesaitete Genre-Fans. Etwas mehr Drive schon im ersten Teil wäre dennoch hilfreich gewesen.
„Hunter Hunter“ feiert seine Deutschlandpremiere auf dem Fantasy Filmfest.