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    Frisch
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
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    Weniger Sonne, ähnlich viel Beton

    Von Lars-Christian Daniels

    Stolze 17 Jahre hat es gedauert, bis Mark McNays viel gelobter Debütroman „Fresh“* den Weg auf die große Leinwand gefunden hat: Im Jahr 2007 erschienen und mit mehreren Buchpreisen ausgezeichnet, wurde die spannende Geschichte über die Hassliebe zweier Brüder aus Glasgow von der britischen Presse gefeiert und ein Jahr später auch ins Deutsche übersetzt. McNays auffallend derber, bruchstückhafter Schreibstil ließe sich etwa mit dem eines Felix Lobrecht vergleichen, dessen Erfolgsroman „Sonne und Beton“ 2023 ebenfalls verfilmt wurde.

    Für die tonal ähnlich gelagerte Verfilmung „Frisch“ zeichnet nun der gebürtige US-Amerikaner Damian John Harper verantwortlich, der 2007 den Weg nach Deutschland fand und an der renommierten HFF in München studierte: Der Regisseur und Drehbuchautor verlegt den Schauplatz der bitterbösen Bruderballade ins Ruhrgebiet und gibt den Hauptfiguren aus „Fresh“ neue Namen, hält sich ansonsten aber recht streng an die rund 250 Seiten starke Romanvorlage. Dabei herausgekommen ist ein temporeich inszenierter und emotional aufgeladener Trip, dem der Titel „Wild“ mit Blick auf das furiose Arrangement fast noch besser zu Gesicht gestanden hätte.

    Port au Prince
    „Frisch“ fährt den Humor des Romans etwas zurück – und präsentiert sich stattdessen als knallhart-düsteren Thriller.

    Gemeinsam mit seinem Onkel Andy (Sascha Alexander Gersak), bei dem er nach dem frühen Tod seiner Mutter und dem Verschwinden seines Vaters aufgewachsen ist, arbeitet Kai (Louis Hofmann) in einer Fleischfabrik in Duisburg. Der schmale Lohn reicht eben so aus, um seine Frau Ayse (Canan Kir) und seine Tochter Jenny in einer Zweizimmerwohnung durchzubringen und sich am Wochenende mal ein Bier zu genehmigen. Doch es steht Ärger ins Haus: Kais krimineller Bruder Mirko (Franz Pätzold) wird bald aus dem Gefängnis entlassen und ihn sicherlich nach den 10.000 Euro fragen, die Kai während seiner Zeit im Bau für ihn aufbewahren sollte. Den Großteil hat Kai aber schon ausgegeben. Und Mirko ist nicht gerade der verständnisvolle Typ, den man auf seine Kohle warten lässt…

    Es weht ein Hauch von „Bang Boom Bang“ durch diesen adrenalinschwangeren Film: das Ruhrgebiet als schmuckloser Schauplatz, die rauchige Reibeisenstimme des einstigen Kalle-Grabowski-Darstellers Ralf Richter und nicht zuletzt eine folgenreiche Pferdewette, bei der der vermeintlich unschlagbare Vierbeiner diesmal auf den vielversprechenden Namen „Wonderfoot“ (und zumindest nicht auf den Namen „Horst“) hört. In ihrem Erzählton sind die beiden Filme aber grundverschieden. Damian John Harper („Woodwalkers“) reduziert die humorvollen Momente des Romans in seiner Adaption auf ein Minimum und arrangiert stattdessen einen kompromisslosen, knallharten Thriller, dessen Geschichte sich ansonsten eng an der literarischen Vorlage entlanghangelt.

    Schweine statt Hühner – und ein extra Gastspiel von Winnetou

    Die schottischen Figuren des Romans erhalten deutsche und türkische Namen, aus dem Glasgower Brennpunkt Royston wird Duisburg und aus der Hühnerfabrik, deren Frischeabteilung das Buch seinen Titel verdankt, wird eine Fabrik zur Zerlegung von Schweinen. Ralf Richters unverwechselbare Stimme formuliert aus dem Off die Gedanken und Monologe, die Kai durch den Kopf schwirren – und mit seiner gutmütigen Tante fehlt nur eine wichtige Figur, der im Roman eine zentrale Bedeutung zukommt. Dafür ergänzt Harper seine Verfilmung um ein bemühtes Cowboy-und-Indianer-Motiv, das die langjährige Verbundenheit der ungleichen Brüder unterstreichen soll und sich durch den gesamten Thriller zieht – einige Film-im-Film-Momente mit Winnetou und Old Shatterhand inklusive.

    Wer „Fresh“ nicht gelesen hat, wird vor allem in der Auftaktviertelstunde Mühe dabei haben, der Chronologie des Geschehens zu folgen – die fährt nämlich gleich dreigleisig. Harper switcht pausenlos zwischen der traurigen Kindheit der Brüder, ihrer bewegten Jugend und dem Hier und Jetzt, in dem der früh auf die schiefe Bahn geratene Mirko aus dem Knast kommt und Kai gnadenlos auf die Pelle rückt. Ein zweifellos dynamischer, aber sehr anstrengender Erzählstil. Der Prolog mit Kais Jugendfreund Selo (Zejhun Demirov) nimmt dabei einen wichtigen Wendepunkt vorweg, während anderswo Leerstellen bleiben. Kai fungiert stets als Identifikationsfigur, die sich im Spannungsfeld zwischen familiären Problemen mit Ayse, seinen finanziellen Sorgen und Mirkos wenig zimperlichen Kumpels wie Bogdan (Bozidar Kocevski) aufreibt.

    Port au Prince
    „Frisch“ spielt überwiegend nachts – und das spiegelt sich auch im stylisch-dunklen Look des Films wider.

    Wir fühlen und sorgen uns mit ihm, wenngleich seine panischen Versuche, Mirkos Geld rechtzeitig aufzutreiben, hier anders als im Roman eher am Rande abgespult werden. Viel Zeit zum Nachdenken lässt uns der überwiegend nachts spielende Film dabei nicht: Das hektisch arrangierte, meist wackelig-düster eingefangene und schnell geschnittene Geschehen unterstützt ein dröhnend-ballernder Soundtrack, wie er so typisch für stylishe Genrefilme dieser Art ist. Die konsequente Verdichtung ist zugleich eine Stärke: Die Handlung ist so komprimiert angelegt, dass kaum Zeit zum Luftholen bleibt. Ehe wir uns versehen, sind die eineinhalb Stunden wie im Flug vergangen und das Geschehen steuert auf seinen schockierenden Schlussakkord zu.

    Auf der Zielgeraden darf Hauptdarsteller Louis Hofmann („Der Passfälscher“) dann auch endlich zeigen, was schauspielerisch in ihm steckt, denn seine relativ schüchterne Figur bietet ihm lange Zeit wenig Spielraum. Die Bühne gehört bis dahin Franz Pätzold („Bier Royal“), der in seiner Rolle als tickende Zeitbombe auf zwei Beinen eine atemberaubende Performance abliefert. Alle anderen Figuren bleiben eher austauschbare Stereotypen – mal abgesehen von Kais charismatischem Onkel Andy, dem der einmal mehr großartige Sascha Alexander Gersak („Gladbeck“) mit seiner akustisch oft schwer zu verstehenden Ruhrpottschnauze und seinem polternden Wesen herrliche Ecken und Kanten verleiht. Ralf Richter ist in diesem Film übrigens tatsächlich nur zu hören, aber nie zu sehen – dabei hätte er beim Zerlegen von Schweinetorsos sicher eine super Figur gemacht…

    Fazit: Temporeicher und mitreißender, wenn auch etwas wild arrangierter Thriller, der vor allem mit seiner stylishen Verpackung überzeugt.

    Wir haben „Frisch“ beim Filmfest München 2024 gesehen, wo er in der Sektion „Neues Deutsches Kino“ gezeigt wurde.

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