Ein spannender Genremix mit "Twin Peaks"-Duftnote
Von Gaby SikorskiUngewöhnliche Mädchengeschichten scheinen eine Spezialität der französischen Filmemacherin Léa Mysius zu sein. Als Drehbuchautorin für Arthouse-Stars wie Arnaud Desplechin und André Téchiné machte sie sich früh einen Namen, ihr Regiedebüt „Ava“ wurde 2017 bei der Premiere in Cannes gefeiert und im Anschluss mit Preisen und Auszeichnungen auf Festivals geradezu überschüttet. „Ava“ erzählt von einer 13-Jährigen, die langsam erblindet und in ihrem letzten Sommer als Sehende die erste große Liebe erlebt.
Mysius‘ lang erwartete zweite Regierarbeit „The Five Devils“ ist ebenfalls eine starke Geschichte über ein Mädchen an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Der Plot erinnert vom Setting her etwas an „Twin Peaks“, mehr noch an „Das Parfüm“ von Patrick Süskind, denn die junge Protagonistin Vicky (Sally Dramé) verfügt über einen außerordentlichen Geruchssinn. Damit aber nicht genug, sie hat nämlich auch übernatürliche Kräfte: Vicky fällt gelegentlich in Ohnmacht und wacht dann in der Vergangenheit auf, wenn sie an einem ihrer gehorteten Düfte schnuppert.
Viel spricht dafür, dass sich Vicky (Sally Dramé) mit Hilfe von Gerüchen in die Vergangenheit zurückversetzen kann.
Gemeinsam mit ihren Eltern lebt Vicky in einem Bergdorf mitten in den französischen Alpen. Die Elfjährige hat es schwer als Kind eines Schwarzen Vaters und einer weißen Mutter. In der Schule wird sie wegen ihres Aussehens gemobbt, beschimpft und bedroht. Schon weil sie keine Freunde hat, ist es kein Wunder, dass Vicky am Rockzipfel ihrer Mutter Joanne (Adèle Exarchopoulos) hängt. Sie begleitet die Mutter bis in die Schwimmhalle, wo Joanne mit alten Frauen Wassergymnastik trainiert, oder zum Gletschersee um die Ecke, in dem sie trotz Eiseskälte ihre Runden dreht. Ihr Vater Jimmy (Moustapha Mbengue) ist aus dem Senegal eingewandert und arbeitet als Feuerwehrmann. Die Familie führt ein ruhiges Leben, doch zwischen Joanne und Jimmy geht es ziemlich frostig zu. Die beiden ahnen nicht, dass Vicky ein großes Geheimnis hat: Sie sammelt in ihrem Zimmer Duftproben, darunter auch den Geruch von Joanne.
Eines Tages kündigt Julia (Swala Emati) ihr Kommen an. Sie ist Jimmys Schwester, also Vickys Tante. Doch niemand scheint sich darüber zu freuen, dass Julia nach vielen Jahren der Abwesenheit mal wieder ihre Familie in den Bergen besucht. Kaum hat sie Julia kennengelernt, arbeitet Vicky schon daran, ihren besonderen Duft zusammenzustellen, für den sie heimlich in einer Art Solo-Séance alle möglichen mehr oder weniger obskuren Elemente vermischt, auch ein bisschen tote Krähe gehört dazu. Die Session hat fatale Folgen: Als Vicky an ihrer neuen Duftkomposition riecht, schläft sie ein und wacht mitten auf der Straße vor einer Sporthalle auf. Eine Gruppe von jungen Mädchen kommt ihr entgegen – Joanne ist dabei. Doch niemand scheint Vicky zu bemerken, die ihnen neugierig in die Halle folgt. Offenbar ist sie in der Vergangenheit gelandet, und damit setzt Vicky eine Entwicklung in Gang, die viele Rätsel löst, aber auch kaum verheilte Narben wieder aufreißt…
Léa Mysius beginnt ihren Film mit kurzen Bildblitzen: ein Mädchen im Glitzerkostüm, das schreiend vor einem Flammenmeer steht; ein Kind, das morgens erschrocken aufwacht; ein Fahrzeug von oben, das auf schmalen Straßen bei Sonnenaufgang durch die verschneiten Berge fährt. Dazu düstere, beinahe sphärische Musikklänge. Mutter und Tochter werden als Paar eingeführt – die kleine Vicky steht am Beckenrand neben ihrer Mutter Joanne und turnt mit. Adèle Exarchopoulos („Blau ist eine warme Farbe“) spielt Joanne sehr zurückgenommen als Frau, die unglücklich ist, ohne dass irgendwelche Gründe dafür sichtbar würden. Ihr puppenhaftes, manchmal wie erstarrtes Gesicht ist vielleicht nur Fassade, es scheint ab und an für kurze Momente das Wissen und die Trauer um ein vergangenes Glück zu spiegeln. Als junge Joanne ist sie ein lebenslustiges Mädchen, mutig und selbstbewusst. Heute ist davon kaum noch etwas übrig.
Auf den Besuch der Schwägerin reagiert sie mit einer zunächst unerklärlichen Verweigerungshaltung. Die grazile Swala Emati ist als Julia eine eher schweigsame, rätselhafte Person. Vicky bemerkt sofort, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmt. Sally Dramé spielt die Kleine als hochsensibles Kind, das seine Gefühle offen zeigen möchte, es aber nicht kann. Statt auf Emotionen konzentriert sie sich auf Düfte und komponiert sie in einer Weise, die an Hexenrituale erinnert. Auch wenn dieses kleine Mädchen mit den riesigen staunenden Augen – eher instinktiv als bewusst – mit allen Mitteln versucht, Julia wieder loszuwerden, ist klar, dass Vicky das, was sie tut, weder verstehen noch beherrschen kann.
Eine Katastrophe aus der Vergangenheit scheint noch immer schwer auf Joanne (Adèle Exarchopoulos) zu lasten.
Vielleicht ist Vicky eifersüchtig auf die schöne Schwarze Frau, oder sie will einfach ihre Mutter schützen, die in ein dörfliches Drama verwickelt ist, das sich erst über Vickys Zeitreisen Stückchen für Stückchen und wie ein besonders originelles Puzzle zu einem Gesamtbild formt: eine Geschichte von fünf Personen, die über ihre Vergangenheit schicksalhaft miteinander verbunden sind, über Kreuz und parallel, in Liebe, Rache und Eifersucht. Neben Vicky, ihren Eltern und Julia gehört auch Nadine (Daphné Patakia) dazu, Joannes Jugendfreundin. Da wäre es naheliegend, in der Anzahl der Personen den Ursprung des Titels zu sehen. Tatsächlich steht der französische Originaltitel „Les cinq diables“ (= „die fünf Teufel“) an der Wand der Sporthalle, weitere Erklärungen gibt es nicht, doch lässt sich eine gewisse Doppelbödigkeit vermuten, was zu der leicht rätselhaften Gesamtstimmung ebenso passen würde wie zu der kühlen, trüben Umgebung.
Die Alpenregion, in der Vicky aufwächst, ist alles andere als ein Postkartenidyll mit Heidi-Flair oder Après-Ski-Glamour, sondern eine kalte, dumpfe, provinzielle Welt der Vorurteile und Klischees, gegen die sich das Kind ebenso wenig zur Wehr setzen kann wie die Erwachsenen. Auf ihre eigene Weise versucht Vicky zumindest, mit den Verletzungen klarzukommen, die sie ständig erlebt. Sie schafft sich eine mysteriöse, nahezu solipsistische Atmosphäre, einen eigenen Geheimkult, über den sie mit der Vergangenheit kommuniziert. Das ist eine kluge, eine anspruchsvolle Idee, doch sie ist leider nicht bis ins Letzte durchdacht. Man sollte also besser nicht allzu sehr nach Logik fragen. Manches bleibt auch in der Andeutung stecken, was dem Film hier und da etwas leicht Prätentiöses gibt. Viel wichtiger ist aber das spannungsreiche, verschlungene Beziehungsnetz zwischen den handelnden Personen, das sich durch Vickys kindliche Wissbegier erst offenbart und dann entwirrt.
Fazit: „The Five Devils“ ist letztlich ein komplexes Familiendrama über Liebe und Eifersucht, das ausgetretene filmische Pfade verlässt und in einer Kombination von Mystery, Fantasy, Familiendrama, Coming Out und Coming-of-Age neue Wege geht, die vielleicht nicht immer unbedingt schlüssig, aber zumindest immer interessant sind. Die verspielten Verweise auf andere Filme wirken dabei nicht störend, sondern sie bereichern den Film eher und machen ihn etwas weniger gewichtig.