Eine Kinoheldin wie keine andere
Von Christoph PetersenMan stelle sich ein Disney-Live-Action-Musical wie „Die Schöne und das Biest“ vor – so richtig mit spektakulär choreographierten Gesangsnummern, opulenten Sets und farbenfrohen Kostümen. Aber statt um einen verwunschenen Prinzen oder zum Leben erwachtes Porzellangeschirr geht es um Zwangsprostitution, brutale Gewalt gegen Frauen sowie den politischen Kampf für die Legalisierung von Sexarbeit. Das Ganze übrigens noch betont jugendfrei, man sieht also nicht einmal einen Kuss auf der Leinwand. Klingt irre – ist aber eine ziemlich akkurate Beschreibung des Bollywood-Blockbusters „Gangubai Kathiawadi“ von Sanjay Leela Bhansali, dem Regisseur des Shah-Rukh-Khan-Klassikers „Devdas – Flamme unserer Liebe“, der schon 2004 mit seinem superdüsteren Gangster-Epos „Black“ die Grenzen des indischen Mainstream-Kinos ausgelotet hat.
Basierend auf einem Kapitel des Sachbuchs „Mafia Queens Of Mumbai“ erzählen Sanjay Leela Bhansali und seine Co-Autorin Utkarshini Vashishtha die wahre Geschichte von Gangubai Kathiawadi, die Mitte des vergangenen Jahrhunderts von einer jugendlichen Zwangsprostituierten erst zu einer mächtigen Zuhälterin mit Mafiakontakten und schließlich zu einer einflussreichen Kämpferin für die Rechte der Sexarbeiterinnen in Indien aufstieg. Das passiert mit dem unbedingten Willen zum maximalen Effekt und zum maximalen Unterhaltungswert, für den das Bollywood-Kino so berühmt-berüchtigt ist – und der hier gerade aufgrund einer gewissen Unbedarftheit mit dem, was bei uns wohl Political Corectness heißen würde, zu einer atemberaubenden Konsequenz führt.
Gangubai (Alia Bhatt) ist sich von Anfang an sicher, dass sie irgendwann einmal über das ganze Rotlichtviertel herrschen wird.
Zu Beginn der 1950er Jahre wird Ganga (Alia Bhatt) von ihrem Verlobten ohne das Wissen ihrer Eltern nach Mumbai gelockt. Dort verscherbelt er sie an ein Bordell im berüchtigten Rotlichtviertel Kamathipura, wo die junge Frau unter Androhung von Folter und Gewalt zur Prostitution gezwungen wird. Zwar ergibt sich Ganga in ihr Schicksal – zugleich nimmt sie sich aber auch vor, möglichst bald selbst über das ganze Viertel zu herrschen und so den Prostituierten bessere Arbeitsbedingungen zu verschaffen.
Und tatsächlich: Nach dem Tod der Bordellvorsteherin übernimmt Ganga, die sich nun Gangubai nennt, nicht nur den Laden – sie verbündet sich auch mit dem lokalen Mafiaboss Rahim Lala (Ajay Devgn), um ihren Einfluss über Kamathipura noch weiter auszubauen. Schließlich führt sie ihr Kampf für die Rechte der Frauen und die Legalisierung der Prostitution sogar bis zum ersten Premierminister des gerade erst unabhängig gewordenen Indiens…
Der Film beginnt zu einem Zeitpunkt nach dem Aufstieg von Gangubai zur ebenso bewunderten wie gefürchteten Berühmtheit in ihrem Viertel: Als ein verschlepptes minderjähriges Mädchen sich weigert, der Arbeit als Prostituierte nachzugehen, wird Gangubai als letztes Mittel zur Hilfe gerufen – und ihr erster Auftritt, bei dem sie in Zeitlupe als Mafia Queen mit ultracooler Sonnenbrille und wehendem Kleid aus dem Auto steigt, erinnert eher an einen Superstar bei der Oscarverleihung als eine Zuhälterin im Elendsviertel. Der hochglänzende Bollywood-Style wird inklusive imposant-wirbelnder Musicalnummern gnadenlos durchgezogen. Gangubai bietet dem Mädchen dann im „Matrix“-Stil zwei Pillen an – eine davon angeblich mit einem hochwirksamen Gift. Das Mädchen wählt die Todespille – und damit ist für Gangubai klar, dass aus ihr sowieso nie eine gute Prostituierte wird, weshalb sie besser wieder nach Hause zu ihrer Familie geschickt werden sollte.
Mit einem europäischen Blick und einer westlichen (Sexual-)Moral ist Gangubai mindestens eine ambivalente Figur – und doch wird sie in „Gangubai Kathiawadi“ ohne Wenn und Aber als historische Heldin abgefeiert. Bei einer politischen Veranstaltung erklärt sie, dass die meisten Ehen ohne Prostituierte sowieso schon längst in die Brüche gegangen wären – und erhält dafür vom tosenden Publikum wie vom Film selbst uneingeschränkt zustimmenden Applaus. So etwas wäre wohl selbst in einer Hollywood-Großproduktion nur in einer sehr verniedlichten Form à la „Pretty Woman“ möglich. Aber ausgerechnet aus dem doch noch mal sehr viel stärker patriarchalisch geprägten Indien hätte man es nun wirklich nicht erwartet. In „Gangubai Kathiawadi“ sieht man keinen Kuss geschweige denn Sex – und doch kann man sich einen progressiveren Film kaum vorstellen.
Mafia-Boss Rahim Lala (Ajay Devgn) erkennt in Gangubai eine Geschäftspartnerin auf Augenhöhe.
Die bunten Kostüme und der keusche Kuss-Verzicht bedeuten übrigens nicht, dass „Gangubai Kathiawadi“ in seinen düsteren Szenen nicht absolut konsequent wäre: An einer Stelle verhindert ihre alte Bordellvorsteherin aus Rache bewusst nicht, dass Gangubai von einem sadistischen Freier brutal zusammengeschlagen wird – sie überlebt nur knapp und hat daraufhin eine fette Narbe, die einmal quer über ihren Oberkörper vom Hals bis unter den Bauchnabel reicht. Trotzdem lässt sich Gangubai später noch einmal mit dem Psychopathen einsperren, um so sein Ende und ihren Aufstieg zu sichern – ein persönliches Opfer, dass vom Film mit einem Maximum an Pathos (sowohl visuell wie auch musikalisch) begleitet wird. Die erprobten Mechanismen des indischen Blockbuster-Kinos funktionieren hier noch mal extra gut – gerade weil sie auf eine Figur angewendet werden, bei der man eine solche Bollywood-Behandlung absolut gar nicht erwartet hätte.
Der immerzu großgedachte „Gangubai Kathiawadi“ ist deshalb auch trotz seiner teilweise niederschmetternden Thematik über weite Strecken gnadenlos unterhaltsam – „Moulin Rouge“ trifft „GoodFellas“ mitten im Rotlichtviertel von Mumbai. Nur im letzten Drittel, wenn der politische Kampf für die Legalisierung der Prostitution in den Vordergrund tritt und Gangubai selbst die politische Elite mit ihren mitreißenden Reden auf ihre Seite zieht, verliert der Film ein klein wenig an Schwung – aber da hat uns Bollywood-Superstar Alia Bhatt („RRR“), die selbst er Bedenken wegen der Rolle hatte, sie dann aber zum Glück doch noch angenommen hat, ebenso um den Finger gewickelt wie Gangubai den Premierminister Jawaharlal Nehru…
Fazit: Ein für europäische Augen wahrhaft seltsamer bis verstörender Mix aus farbenfroher Form und düsterem Inhalt – aber gerade deshalb ist „Gangubai Kathiawadi“ so ungemein faszinierend. Ausgerechnet ein waschechtes Bollywood-Epos, in dem aus Zensurgründen nicht mal ein Kuss zu sehen ist, erweist sich als einer der progressivsten, radikalsten und geradeheraus unterhaltsamsten Film zum Thema Sexarbeit überhaupt.
Wir haben „Gangubai Kathiawadi“ im Rahmen der Berlinale 2022 gesehen, wo er in der Sektion Berlinale Special gezeigt wurde.