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    Ein Leben für die Menschlichkeit - Abbé Pierre
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Ein Leben für die Menschlichkeit - Abbé Pierre

    Opulentes Biopic über ein Nationalheiligtum

    Von Gaby Sikorski

    Frankreich gilt als Land des „savoir vivre“, der Kunst, das Leben zu genießen. Damit wird üblicherweise ein Lebensstil assoziiert, zu dem erlesene Speisen mit dazu passenden Getränken wie auch die Liebe zum Luxus gehören. Man könnte nun meinen, dass der beliebteste Franzose einer der zahlreichen berühmten Modeschöpfer des Landes oder einer der vielen Sterneköche ist. Doch Pustekuchen. Ausgerechnet ein Armenprediger gewann über Jahrzehnte immer wieder diese Umfrage.

    Der 2007 verstorbene Abbé Pierre war ein Mönch, der lebenslang, mit großer Leidenschaft und durchaus erfolgreich an das Gewissen seiner Landsleute appellierte und sie zu Komplizen in seinem Kampf gegen die weltweite Armut machte. Seine abenteuerliche Geschichte steht im Mittelpunkt von „Ein Leben für die Menschlichkeit – Abbé Pierre“. Das von Frédéric Tellier („Goliath“) inszenierte Biopic überzeugt als wuchtiges Film-Epops mit reicher Ausstattung und starken Bildern. Es wird so der Lebensleistung des Abbé Pierre gerecht – der Persönlichkeit dieses Mannes allerdings nicht immer.

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    Abbé Pierre war auch ein Liebling der Medien.

    Zwei Jahre vor Beginn des 1. Weltkriegs wird Henri Groués (Benjamin Lavernhe) in Lyon geboren. Seine Eltern sind wohlhabend bis steinreich, doch dem jungen Henri sind Privilegien herzlich egal. Er entscheidet sich für den spirituellen Weg, schließt sich als Zwanzigjähriger dem Kapuzinerorden an und wird zum Priester geweiht. Doch eine Tuberkulose-Erkrankung zwingt ihn, das Ordensleben aufzugeben. Der 2. Weltkrieg ändert Groués vorgezeichneten Lebensweg endgültig...

    Er schließt sich der Résistance an, wo er gefährliche Abenteuer bewältigen muss: Eigenhändig fälscht er Papiere und verhilft auf diese Weise zahlreichen Juden und Jüdinnen sowie politisch Verfolgten zur Flucht in die Schweiz. In der Résistance lernte er Lucie Coutaz (Emmanuelle Bercot) kennen, die ihm den Decknamen Abbé Pierre gibt und nach dem Krieg gemeinsam mit ihm die Hilfsorganisation „Emmaus“ gründet. Dieser Stiftung ist die zweite Hälfte des Films gewidmet. Sie ist Abbé Pierres Lebenswerk mit dem Ziel, weltweit die Armut zu lindern und Partei für die Schwächsten der Gesellschaft zu ergreifen.

    Bei so viel Stoff kann nur an der Oberfläche gekratzt werden

    Abbé Pierre begriff schon sehr früh, wie wichtig die Medien für den Aufbau und das Funktionieren einer karitativen Organisation sind. Er machte sich selbst zum Symbol der von ihm geschaffenen Stiftung und wurde zur über Jahrzehnte verehrten, geschätzten, aber auch gefürchteten Persönlichkeit. Pierre war ein streitbarer Priester, der keiner Kontroverse aus dem Weg ging und wie ein Rohrspatz auf die Reichen und Mächtigen der Welt schimpfte, sobald eine Kamera in der Nähe war.

    Frédéric Tellier versucht in seinem Biopic nicht nur diese Facette, sondern das gesamte lange, abenteuerliche Leben in zweieinviertel Stunden zu packen. Vieles wird dabei lediglich gestreift, die biografische Erzählung bleibt oft an der Oberfläche – auch da, wo es vielleicht angebracht gewesen wäre, in die Tiefe zu gehen, um der Vorbildfigur gerecht zu werden. Abbé Pierre wird auf diese Weise mit voller Absicht zur überlebensgroßen Heiligenfigur stilisiert. Dabei sind es auch und gerade seine Menschlichkeit und seine Fehlbarkeit, weswegen seine Landsleute ihn bis heute ins Herzen geschlossen haben.

    Doch für viel davon bleibt in diesem Biopic kein oder nur kaum Platz. Dass er die Größe hatte, sich in seiner Unterstützung des Holocaust-Leugners Garaudy zu korrigieren, hätte mehr Raum verdient. Das gilt auch für sein autobiografisches Eingeständnis, es mit dem Zölibat nicht immer ganz genau genommen zu haben.

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    Bis ins hohe Alter setzte sich der Abbé für die Menschen ein.

    Mit Charme verkörpert der eigentlich eher als leichtfüßiger Komödiendarsteller bekannte Benjamin Lavernhe („Mein Liebhaber, der Esel & Ich“) den Abbé Pierre in seiner ganzen überwältigenden Menschlichkeit. Mit Bravour schultert er die eigentlich undankbare Aufgabe, ein nationales Denkmal zu spielen, nicht zuletzt, weil er gelegentlich wacker gegen den Bombast des Regiekonzepts anspielt. Und damit kommt er dann vermutlich dem echten Abbé Pierre sehr nahe. Geradezu sensationell ist die Darstellung des Alterungsprozesses der Hauptfigur – vom jungen Mann bis zum 95-jährigen Greis. Nicht nur der Hauptdarsteller, sondern auch da Makeup-Team leisten hier ganze Arbeit.

    Großes Kino war das Ziel von Frédéric Tellier. Das hat er zumindest teilweise erreicht. Ihm sind zum Teil großartige Bilder gelungen. Die Action-Sequenzen, in denen Pierres Abenteuer in der Resistance geschildert werden, sind ebenso ergreifend wie die Szenen aus dem berüchtigten „Kälte-Winter“ 1953/54, als er mit großem persönlichen Einsatz zahlreichen Obdachlosen das Leben rettete. In den stilleren Momenten, die Tellier dem Publikum gelegentlich gönnt (zum Beispiel in den Gesprächen, in denen Lucie Coutaz ihn mit sanfter Bestimmtheit zur Ordnung ruft), ist auch etwas von der Herzenswärme zu spüren, die das Wirken Abbé Pierres ausgemacht hat.

    Die einfachen Bilder am Ende entfalten die größte Kraft

    Am Ende des Films, nach einem überkitschig inszenierten Aufstieg Abbé Pierres zur Himmelspforte, zeigt Tellier noch dokumentarische Szenen vom Kampf gegen die Armut und wie Abbé Pierres Lebenswerk heute fortgesetzt wird. Diese einfachen, letztlich kunstlosen Bilder entfalten eine große emotionale Kraft. Da möchte man beinahe daran zweifeln, ob das zuvor mit großem Aufwand inszenierte Überwältigungskino wirklich notwendig war. Wäre weniger doch mehr gewesen? Das hätte vielleicht besser zur Persönlichkeit des Protagonisten gepasst. Andererseits ist man auch dankbar, dass im europäischen Kino mal ordentlich Geld in die Hand genommen, um den epischen Bildern Hollywoods Konkurrenz zu bieten und diese besondere Lebensleistung zu feiern – auch wenn es dann bisweilen etwas kitschig wird.

    Fazit: „Ein Leben für die Menschlichkeit – Abbé Pierre“ ist trotz aller Schwächen ein wuchtiges Film-Epos, welches einen Mann aufs Podest stellt, der aufgrund seiner Lebensleistung da auch wirklich hingehört.

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