Acht Stunden Meditation
Von Janick NoltingWie nah kann ein Film eigentlich dem „echten“ Leben kommen? Wie schafft er es, so in den Alltag seiner Figuren einzutauchen, dass man als Zuschauer das Gefühl bekommt, zumindest für einen gewissen Zeitraum mit ihnen gemeinsam in dieser Welt zu leben? Mit diesen Fragen muss sich irgendwann mal jeder Filmschaffende auseinandersetzen, doch nur wenige haben eine künstlerisch so radikale Antwort darauf gefunden wie Anders Edstrom und C.W. Winter In ihrem Film „Werke und Tage (der Tayoko Shiojiri im Shiotanibecken)“ blicken die Regisseure in die Lebensrealität einer japanischen Bäuerin und wählen dafür eine ebenso sperrige wie konsequente Form. Will sich das Kinopublikum auf diese Reise einlassen, braucht es vor allem eins: jede Menge Geduld!
Tayoko (Tayoko Shiojiri) lebt in einem kleinen Dorf in den Bergen der japanischen Präfektur Kyoto. Sie kümmert sich um ihre Familie, bewirtschaftet das Feld vor dem Haus, der Alltag nimmt mit den gewohnten Ritualen seinen Lauf, die Jahreszeiten vergehen. Doch eines Tages trifft die Familie ein schwerer Schicksalsschlag, als Tayokos Sohn Junji-san (Kaoru Iawahana) schwer erkrankt…
Tayoko beim Zeitungslesen.
Ganze acht Stunden lang ist Edstroms und Winters Einblick in den Alltag ihrer Titelfigur, wobei der Kinobesuch an sich sogar noch länger dauert: „Werke und Tage“ ist in fünf Kapitel untertitelt, zwischen denen es drei von den Regisseuren intendierte Pausen von unterschiedlicher Länge gibt. „Werke und Tage“ kommt zeitlich gesehen also etwa einem vollen Arbeitstag gleich und damit ist die enorme Laufzeit natürlich das, worüber man zuallererst bei diesem Film stolpert. Doch genau diese acht Stunden sind auch notwendig, um die angestrebte Wirkung zu erzielen, nämlich das Vergehen der Zeit in den fünf Jahreszeiten, die der Film portraitiert, erfahrbar zu machen.
„Werke und Tage“ zeigt im Grunde genommen genau das, was der Titel verspricht. Wir sehen Tayoko Shiojiri zu, wie sie das Jahr hindurch lebt und arbeitet, wie sie das Feld pflügt, wie sie Obst erntet, wie sie Essen zubereitet, wie sie mit anderen Menschen spricht. Ja, wir dürfen einigen Figuren sogar beim Schlafen zusehen. Das hat – wenig überraschend – auch seine langweiligen und anstrengenden Passagen, doch die Regisseuren erzeugen dabei zugleich auch eine regelrecht meditative Wirkung.
Der gesamte Film fühlt sich an wie ein großes Ritual – er orientiert sich sogar stilistisch in gewisser Weise an dem klassischen Ablauf eines Rituals, wie ihn der Ethnologe Victor Turner formuliert hat. Zu Beginn eines jeden Kapitels bleibt das Bild schwarz, teilweise mehr als zehn Minuten lang. Nur zwitschernde Vögel sind zu hören, oder ein Auto, das entfernt vorbeifährt, Schritte im Matsch, Wassertropfen, die zu Boden fallen, rauschende Blätter, Geräusche, die sich immer mehr überlagern und anschwellen. In dieser Trennungsphase, wie sie Turner benennt, sind diese Klangteppiche ungeheuer wichtig, um einen nach den Pausen wieder in die entschleunigte Welt des Films zu ziehen, bevor man sich dem fast stillstehenden Schwellenzustand dieser filmischen Alltagserfahrung hingibt.
Sowieso ist das Sounddesign eine der größten Stärken des Films. Es lässt einen die Natur mit all ihren verschiedenen Klängen erfahren. An anderer Stelle grenzt das an magischem Realismus. Da klingt leise Musik durch einen Wald, die offensichtlich direkt aus der innerfilmischen Welt kommt, aber vom Zuschauer gar nicht verortet werden kann. Oder in einer anderen Szene, wenn bei einem zentralen Dialog in einem Auto einfach die Sprache stummgeschaltet wird. Da sind nur noch die Umgebungsgeräusche zu hören, der Dialog selbst kann nur in den Untertiteln mitgelesen werden, obwohl sich die Kamera direkt hinter den Köpfen der Sprecher befindet. In solchen Kippmomenten ist „Werke und Tage“ am beeindruckendsten! Winter und Edstrom spielen äußerst clever damit, die Aufmerksamkeit auf jene Alltäglichkeiten zu lenken, die normalerweise kaum noch wahrgenommen werden.
"Tage und Werke" macht eine ganze Region erfahrbar.
Generell erweckt der Film mitunter den Eindruck, dass er sich für das menschliche Drama, das sich im Haus der portraitierten Familie abspielt, nur am Rande interessiert. Es ist die ganze Region, die hier erfahrbar gemacht werden soll. Das dörfliche Leben, die umliegende Vegetation, die Wege, die zurückgelegt werden müssen, um an bestimmte Orte zu gelangen. Optisch werden dabei so einige Erwartungen unterlaufen. Die Bilder, in denen hier die eigene Langsamkeit zelebriert wird, sind zwar für einen Vertreter des sogenannten slow cinema verhältnismäßig schnell aneinandergeschnitten, verweigern sich aber konsequent einer künstlichen Ästhetisierung.
Wo etwa Lav Diaz (sein „A Lullaby To The Sorrowful Mystery“ ist sogar noch fünf Minuten länger) oder Bela Tarr („Satanstango“) in ihren vielstündigen Filmen oftmals auf ausgeklügelte Licht- und Schattenspiele, lange Einstellungen und große Tableaus zurückgreifen, sind die Bilder in „Werke und Tage“ in ihrem Naturalismus eigentlich unspektakulär. Gedreht wurde mit natürlichem Licht. Heißt: In den Nachtszenen gibt es nicht viel zu sehen. Und doch sind gerade die nächtlichen Aufnahmen ungemein beeindruckend, wenn etwa aus der Ferne auf Häuser geschaut wird, in denen nur ein einzelnes Licht brennt. Oder wenn im Winter der Nachthimmel nur vereinzelt von Gewitterblitzen erhellt wird. „Werke und Tage“ verleiht der Natur einen Zauber, obwohl teilweise nur kleine Lichtpunkte auf der Leinwand erscheinen.
So herausragend das stilistisch gemacht ist, so schade ist es, dass sich der Film ausgerechnet in dieser Formstrenge etwas verliert. Irgendwann hat man sich an den ewig gleichen Naturbildern sattgesehen, vieles wirkt immer willkürlicher. Dabei verpasst es der Film, tiefer in das Innenleben seiner Figuren vorzudringen. Zu wenige Dialoge, zu fragmentarische Blicke auf das Miteinander. Die wichtigsten Szenen sind eigentlich schon im ersten Drittel auserzählt. Das Konzept der Zeit- und Raumerfahrung, das auf formaler Ebene angestrebt wird, ist eine bedeutsame zweite Ebene für diesen Film. Aber wenn die Handlung zwischen all den profanen Ereignissen so dünn gestrickt ist, sehnt man sich doch irgendwann das Ende herbei.
Dabei liegt der Geschichte ein zutiefst berührender Kern zu Grunde: Hauptdarstellerin Tayoko Shiojiri spielt sich, wie auch der Rest des Ensembles, selbst. Im Film verarbeitet sie einen realen Trauerfall und ihre Schuldgefühle. Da spricht man über das Aufbegehren gegen die Eltern, über den Tod und all das, was man dann doch nie erreichen konnte, weil das Leben an einem vorbeizieht. Diese Charaktermomente an der Schnittstelle zwischen Fiktionalität und Dokumentarfilm sind inszenatorisch spannend, doch sie sind zu rar gesät. Immer wieder wird die Zeit angehalten. Die Kamera verharrt dann auf einem Ventilator, auf Töpfen, an einem Fleck an der Wand, alles ist still.
Der Film lässt die Gegenstände sprechen und übt sich fast schon an einer Art Totenbeschwörung, bei der Vergangenes und Gegenwärtiges verschwimmen. Man scheut mit dieser Flucht in das Materielle und in die Natur zugleich aber auch eine tiefere menschliche Auseinandersetzung, die diesen acht Stunden gutgetan hätte. Die Regisseure verlassen sich manchmal zu sehr darauf, in ihren ruhigen Bildern das Universelle zu finden. In gewisser Weise gelingt ihnen das auch, aber acht Stunden lang das Publikum Frustration, Melancholie und Stillstand spüren zu lassen, ist dann eben doch manchmal so zäh, wie es sich anhört. Am Ende dieses Tages kehrt man zwar bereichert, aber auch unbefriedigt in den eigenen Alltag zurück.
Fazit: „Werke und Tage (der Tayoko Shiojiri im Shiotanibecken)“, der auf der Berlinale in der neugegründeten Sektion Encounters mit dem Hauptpreis ausgezeichnet wurde, ist herausforderndes Experimentalkino, dessen dünne Handlung dem eigenen Konzept hier und da etwas zum Opfer fällt. Dennoch handelt es sich mit Sicherheit um eine der faszinierendsten Seherfahrungen des Kinojahres.
Wir haben „Werke und Tage (der Tayoko Shiojiri im Shiotanibecken)“ im Rahmen der Berlinale gesehen, wo er in der Sektion Encounters gezeigt wurde.