Ein Film außerhalb der großen Welle, die aus Hollywood herüber schwappt, ist „Ali Zaoua“ des marokkanischen Regisseurs Nabil Ayouch („Mektoub“, 1998), der die Geschichte von Straßenjungen in Casablanca erzählt und überwiegend mit Laiendarstellern gedreht wurde. Der Film wurde möglich durch den Kontakt Ayouchs mit der nichtstaatlichen Organisation „Bayti“ in Casablanca, die sich um die Straßenkinder kümmert. Der Regisseur begleitete Mitarbeiter der Organisation zwei Jahre lang; „Bayti“ half Ayouch bei der Auswahl der Darsteller. Drei Streetworker von „Bayti“ betreuten die Kinder während der Aufnahmen.
Ali (Ali Zaoua), Kwita (Mounïm Kbab), Omar (Mustapha Hansali) und Boubker (Hicham Moussoune) sind „Chemkaras“, Straßenjungen, die täglich um ihr Überleben kämpfen müssen. Sie sind in Gangs zusammengeschlossen, schnüffeln an Klebstofftuben, betteln, gehen auf den Strich, stehlen. Die vier Jungens haben gerade die Bande des älteren, taubstummen Dib (Saïd Taghmaoui) verlassen, wollen ihren eigenen Weg gehen. Doch das kann ein Bandenführer eigentlich nicht dulden. Die vier werden mit Steinen beschmissen und ultimativ aufgefordert, unter die Führung von Dib zurückzukehren. Doch sie weigern sich. Ein spitzer Stein trifft Ali am Kopf; er stirbt. Die anderen drei sind entsetzt und verzweifelt. Doch dann beschließen sie, Ali das Begräbnis eines Prinzen zu ermöglichen. „Er mag wie ein kleines Stück Dreck gelebt haben, aber er wird nicht wie eins beerdigt“, sagt Kwita. Ali träumte schon als kleines Kind davon, Seemann zu werden und die Insel mit den zwei Sonnen anzusteuern, um dort glücklich zu leben. Wenigstens im Himmel wird es doch hoffentlich eine solche Insel geben, denken seine Freunde, und setzen alles daran, Ali ein einem Prinzen würdiges Begräbnis auf hoher See zu ermöglichen. Doch dazu benötigen sie Geld. Und Dib sieht es überhaupt nicht gern, was die drei vor haben...
Nabil Ayouchs Streifen beginnt wie eine dokumentarische Nahaufnahme in den Elendsvierteln von Casablanca. Er zeigt die eigentümliche Freundschaft zwischen drei Kindern, die gezwungen sind, in einer Welt verlassen von Eltern oder anderen Erwachsenen, die sich um sie kümmern, in einer fatalen Mischung zwischen Kindsein und Kindsein-Wollen einerseits, Erwachsensein-müssen andererseits zu überleben. Immer wieder dringt in diese existentiell beängstigende Welt die Phantasie der Kinder, so wenn der kleine Boubker von einem Zuhause bei seinem Onkel träumt oder wenn Kwita in die Sterne schaut und dort Ali sieht, als Strichzeichnung, wie er eine nette Frau findet, auf seinem Schiff mit ihr zu seiner Insel mit den zwei Sonnen davon segelt. Immer wieder auch gewinnt die Freundschaft zwischen den drei Kindern Oberhand über die Bedrohungen durch die Armut, die Polizei und die Bande um Dib. Als Omar Alis Mutter (Amal Ayouch) erzählen will, dass ihr Sohn tot ist, bekommt er die Wahrheit nicht heraus. Er sieht, welches schöne Zimmer Ali bei ihr gehabt hatte, dass er seine Mutter aber verlassen hatte, weil er ein Gespräch zwischen ihr und einem Fremden belauschte, in dem dieser Geld für Alis Organe bot.
„Ali Zaoua“, zunächst dokumentarisch, wächst sich nach und nach zu einem Drama aus, das in realistischer Weise die tiefe Freundschaft von drei Kindern schildert, die nur ein Ziel kennen: Alis Begräbnis, wie sie sich es vorstellen, zu verwirklichen. Sie wollen ihrem toten Freund die letzte Ehre erweisen, ihm im Tod, im Himmel seinem Traum näher bringen, und zugleich ihre eigene Sehnsucht nach einem besseren Leben stillen, das sie vielleicht nie erreichen werden. Sie setzen sich gemeinsam gegen Dib durch, beweisen nicht nur dadurch, dass sie ernsthaften Herausforderungen gewachsen sind. Das gemeinsame Ziel des Begräbnisses, der Tod, schweißt die drei Jungens zusammen.
Nabil Ayouchs Film hat in keiner Weise einen Hang zur Mitleid erregenden Sozialklamotte und verzichtet auf Anklagen im Sinne falsch verstandener political correctness. Trotzdem ist der Film „korrekt“, denn er lässt die Geschichte von Kindern spielen, die sich in dieser Welt am besten auskennen. Sie setzen die Idee des Drehbuchs um eine realistische Geschichte, in der sie sich selbst spielen.
Ein beeindruckender, sehr nahe gehender Film aus einer Welt, die im Kino nicht allzu oft einen Platz hat. Mich erinnerte der Streifen mehrfach an „Die Zeit der trunkenen Pferde“, der 2001 zu sehen war und der auch von elternlosen Kindern in einer existentiell bedrohlichen Umgebung handelte. Ein Film von Hoffnungslosigkeit, aber auch über Hoffnung und Verbundenheit, über Kinder, die eine fast unvorstellbare Kraft zum Überleben und zum Leben aufbringen.