Die Generation der (zu) vielen Möglichkeiten
Von Michael MeynsEs plant wohl niemand, der schlechteste Mensch der Welt zu werden. Dann eher schon der beste. Nur nach welchen Maßstäben? Den eigenen? Denen der Eltern? Der Freunde? Der Gesellschaft? Diese Frage bewegt die fast 30-jährige Protagonistin von Joachim Triers Cannes-Wettbewerbsbeitrag „Der schlimmste Mensch der Welt“, mit dem der norwegische Auteur nach einem englischsprachigen Ausflug („Louder Than Bombs“) und einem Abstecher in Genregefilde („Thelma“) wieder zu seinen filmischen Wurzeln zurückkehrt:
„Der schlimmste Mensch der Welt“ bildet nach „Auf Anfang“ und „Oslo, 31. August“ nun den Abschluss einer losen Trilogie über den mit allen Möglichkeiten aufgewachsenem, aber genau an diesen zerbrechendem Nachwuchs der Osloer Oberschicht. Dabei wirkt der Film oft so genauso fahrig und von den Chancen überwältigt wie seine Hauptfigur. Aber da Triers letzter Oslo-Film noch mit einem finalen Freitod schockierte, ist selbst das womöglich schon so etwas wie ein kleiner Hoffnungsschimmer…
Julie (Renate Reinsve) läuft hoffnungsfroh einer Zukunft voller Möglichkeiten entgegegen, zwischen denen sie sich aber dann doch nie wird entscheiden können...
Julie (Renate Reinsve) ist nicht mehr ganz jung, aber trotzdem noch unentschlossen. Finanzielle Sorgen muss sich die 29-jährige Tochter aus bürgerlichen Verhältnissen nicht machen – und so studiert sie mal dies, mal das. Erst Medizin, dann Psychologie und schließlich beschließt sie, dass der Fotografie ihre Leidenschaft gehört.
Sie lernt den 44-jährigen Comic-Autoren Aksel (Anders Danielsen Lie) kennen, der eigentlich der Meinung ist, dass der Altersunterschied zu groß sei. Trotzdem werden sie ein Paar. Die Liebe ist groß, doch die Fragen, die Julie umtreiben, werden deshalb nicht kleiner. Einige Zeit später lernt sie Eivind (Herbert Nordrum) kennen. Ist er, so alt und unentschlossen wie sie selbst, vielleicht die bessere Option?
Funktioniert inzwischen das ganze Leben wie Tinder? Ist es nur noch ein ständiges Suchen nach etwas Anderem? Ein Ausloten der Möglichkeiten? Ein unentschlossenes Mäandern? Bloß nicht festlegen, alle Optionen offenhalten! Was man machen will, wie man leben soll, das sind Fragen, die sich gerade der bürgerliche Teil der Gesellschaft stellt – also eine Schicht, die dank dem relativ Wohlstand ihrer Eltern weitestgehend sorglos durch das Leben gehen kann: Denn wenn ein Plan misslingt oder ein Projekt scheitert, dann finanzieren Mama und/oder Papa bestimmt ein Yoga-Retreat zur Erholung.
Der Held von „Oslo, 31. August“ konnte der gefühlten Leere, die mit dieser Existenz verbunden ist, nur noch durch den Freitod entgehen. Aber das ist jetzt auch schon wieder zehn Jahre her. Inzwischen ist auch der in Kopenhagen geborene, in Oslo aufgewachsene Joachim Trier 47 Jahre alt. Also nicht mehr jung, sondern in einem Alter, das früher als „die besten Jahre“ bezeichnet wurde. Längst ist eine jüngere Generation herangewachsen, von der populären Soziologie gerne Millenials genannt, die noch mehr Freiheiten und damit noch mehr Möglichkeiten besitzt – und sich vielleicht genau deshalb noch schwerer tut, sich zu entscheiden.
Kiffen und Yoga gehört einfach dazu - alles andere ist optional.
Aus dieser Generation stammt Julie, deren Leben der Regisseur in zwölf Kapiteln – plus einem Prolog und einem Epilog – schildert. Kleinteilig wirkt diese Einteilung, literarisch, zwangsläufig episodisch. Manche der Kapitel sind richtiggehende Kurzfilme, die eigentlich auch für sich stehen könnten, andere wiederum kaum mehr als Vignetten mit prägnanten Titeln wie „Oralsex im Zeitalter von #metoo“. Da dreht sich also alles um die Frage, ob eine moderne, natürlich feministische Frau wirklich Freude an Oralsex haben kann und darf. Später streitet sich Aksel, der mit einem ziemlich vulgären Comic zu Wohlstand und Berühmtheit gekommen ist, mit einer postfeministischen Genderaktivistin über die aktuell korrekte Bezeichnung für eine Prostituierte.
Zudem ziehen sich Generationenkonflikte durch den Film, wobei inzwischen die Generationen nicht mehr wie früher 25 oder 30 Jahre auseinanderliegen, sondern nur noch zehn, maximal 15. Die Welt beschleunigt sich immer mehr, zur Ruhe kommt ein Mensch wie Julie nur schwer. Sie jobbt in einem Buchladen, probiert sich aus, fragt sich, ob und wann sie Kinder möchte und wenn ja, warum eigentlich? Weil man das eben so macht? Weil die Gesellschaft das von einer Frau erwartet? Oder will sie es wirklich auch selbst?
Einen erstaunlichen Reifungsprozess durchlebt diese Julie im Laufe des Films, überzeugend gespielt von Renate Reinsve, die vor zehn Jahren auch schon in „Oslo, 31. August“ eine kleine Rolle hatte. Hier ist sie das Gesicht einer ganzen Generation, jung, schön, melancholisch und unentschlossen – und damit in gewisser Weise wie Joachim Triers Film selbst:
„Der schlimmste Mensch der Welt“ ist souverän und modern gefilmt, mit Regieschmankerln wie Animationssequenzen, rasanten Schnittpassagen, prägnantem Einsatz von Popmusik, der Verwendung von einem betont selbstreflexiven Voice Over, das die Künstlichkeit der filmischen Versuchsaufstellung nur noch betont. Nicht nur dank der stets attraktiven Hauptdarsteller*innen, des magischen Lichts in Oslo sowie der ausladenden bourgeoisen Wohnungen sieht das zwar immer gut aus, ist dabei aber auch mäandernd und ausfranzend. Eben ein bisschen so, wie die Generation, die er beschreibt.
Fazit: Die vielen Einzelteile von Joachim Triers „Der schlimmste Mensch der Welt“ fügen sich nicht ganz zu einem großen Ganzen. Dennoch ist der fünfte Film des norwegischen Auteurs das prägnante Porträt einer Generation, die vor ihren (zu) vielen Möglichkeiten zurückschreckt – und so in einer Schockstarre der Unbestimmtheit verharrt.
Wir haben „Der schlimmste Mensch der Welt” beim Filmfestival in Cannes gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.