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    Zorn der Bestien - Jallikattu
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Zorn der Bestien - Jallikattu

    Ein Stier entfesselt den puren Film-Wahnsinn

    Von Janick Nolting

    Die Uhr tickt. Mit jedem hörbaren Vorrücken des Sekundenzeigers ein Augenaufschlag. Menschen erwachen aus dem Schlaf und sind sofort in Alarmbereitschaft. Bereits in den ersten Einstellungen von „Zorn der Bestien – Jallikattu“ lauert eine enorme Aggressivität und Unruhe. Der gefeierte indische Regisseur Lijo Jose Pellissery setzt den Alltag eines Dorfes in Gang: Rennen, Beten, Kochen, eine Frau wird geschlagen, ein Tier geschlachtet, Fleisch zerhackt und verkauft. Die Bilder beschleunigen ihr Tempo, scheinen das Ticken der Uhr im Hintergrund überholen zu wollen. In diesem Szenario wird einer der atemlosesten Film-Trips der vergangenen Jahre losbrechen.

    Mitten in der indischen Provinz ist ein Bulle der Schlachtbank entkommen. Unter den Einheimischen machen sich Frust und Panik breit, schließlich war das Fleisch längst für diverse Zwecke eingeplant. Jetzt sucht das erklärte Ungeheuer die Gegend heim. Während sich die einen ängstlich verbarrikadieren, rotten sich die Männer zusammen, um den Bullen zu erlegen. Ihre Hatz wird schnell zum internen Machtkampf. Die Konflikte der Alphamännchen münden in Gewalt, das Kräftemessen untereinander kennt keine Grenzen. Jeder will als Sieger aus dieser Jagd hervorgehen…

    Ein ausgerissener Stier entlarvt die ganze Grausamkeit der Menschen...

    „Jallikattu“ fühlt sich an, als hätten die Safdie-Brüder („Der schwarze Diamant“) die Dschungel-Verfolgungsjagd aus Mel Gibsons „Apocalypto“ neu verfilmt und sich dabei von Darren Aronofskys „mother!“ inspirieren lassen. Das Resultat ist rauschhaftes, überforderndes Kino in Dauerbewegung. Die Kamera erscheint in Lijo Jose Pellisserys Film so rastlos wie die Figuren. Permanent hetzt sie in langen Einstellungen durch Hinterhöfe, Straßen und den Urwald, stürzt sich als Mitspieler in Dreck und Menschenmassen, wo sie selbst umhergeschubst wird. Da gibt es oftmals bewusst keine erlösenden Schnitte, die diese bedrohlichen Räume aufbrechen. Pellisserys pulsierender Stil verlangt Auslieferung, sich von diesem anstrengenden, aber jederzeit immersiven, archaischen Szenario mitreißen zu lassen.

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    Hier arbeitet ein Regisseur mit viel Rhythmus-Gefühl. Die Eskalationen während dieser zügellosen Treibjagd sind meisterhaft choreographiert. Die geschickten Variationen im Tempo und Schnitt der eindrucksvollen Aufnahmen konnte man etwa bereits in Pellisserys letzten Werk „Ee.Ma.Yau“ erleben. Dort war es eine Beerdigung, die fortwährend ins Chaos abdriftet, während die Dorfgemeinschaft ihre liebevoll traditionsbewusste, aber auch barbarische Seite zeigt. Inzwischen ist der Regisseur noch stilsicherer und radikaler geworden.

    Ein gnadenloser Blick auf die Bestie Mensch

    Pellisserys jüngster Film ist eine Polemik, eine gnadenlose Abrechnung mit der Zivilisation. Die umstrittene, titelgebende Jallikattu-Tradition dient ihm dabei als Projektionsfläche. Bei dieser versuchen Männer, einen Bullen und letztlich die Natur zu bezwingen. Das Spielerisch-Rituelle besagter Tradition erklärt der Film zum Dauerzustand. Man könnte auch sagen: „Zorn der Bestien – Jallikattu“ entdeckt auf brutale Weise, dass der chaotische und gewaltsame Ausnahmezustand, den das Dorf verhängt, längst Normalität ist.

    Es wäre nun leicht zu deuten, dass der Film nur die Menschen (und vor allem die Männer) in ihrer animalischen Natur entlarven will. Schade, dass „Jallikattu“ in seinem verblüffenden finalen Zeitsprung selbst eine solch verengende Deutung suggeriert. In Wirklichkeit ist Pellisserys Film nämlich noch weitaus komplexer gestrickt. Hier eine Szene häuslicher Gewalt. Dort erzählt man von Migration und ärmlichen Lebensbedingungen. Ein privilegierter Patriarch will den Familienritus wahren. Da treibt jemand Schulden ein: Wenn das Dorf schon untergeht, dann doch wenigstens schuldenfrei!

    Es wird zertreten und zerhackt - "Zorn der Bestien - Jallikattu" ist ein unglaublich körperlicher Film.

    Anarchie und faschistische Tendenzen in der Jägergruppe treten zu Tage. Aber auch der Kommunismus spielt eine Rolle – „Jallikattu“ stellt die Systemfrage in alle Richtugen. In einer Szene reißt der Bulle eine rote Flagge vom Mast und stürmt mit ihr durch das Dorf, während sich die Meute über ihn hermacht. Der Film könnte tatsächlich auch von einer gescheiterten Revolution handeln. Da werden miserable Verhältnisse angeprangert, man weiß um das vergiftete Miteinander. Und doch versucht man nur, das wilde Tier als Feindbild, das die Brüchigkeit dieses menschlichen Miteinanders enttarnt, zu vernichten, um den Status quo wiederherzustellen, der von Anfang an ein grausamer und wenig lebenswerter war.

    Dass „Jallikattu“ ausgerechnet während der Corona-Pandemie in Deutschland erscheint, bereichert ihn um weitere interessante Perspektiven und bestätigt seine Brisanz. Schließlich hat die Pandemie teils nicht minder hysterische Auseinandersetzungen verursacht. Auch in der Realität war und ist immer wieder die Rede von einer Rückkehr zur Normalität, Menschen rotten sich zusammen, konstruieren sich Feindbilder und Sündenböcke, suchen andererseits nach einer Beherrschung der Natur, während man ganz grundlegende Fragen über soziale, systemische Ungerechtigkeiten einfach zu übergehen scheint.

    Der Rückfall in den Ur-Zustand

    So simpel die Prämisse im Kern gestrickt ist: Genau diese clever konstruierte Vieldeutigkeit verleiht „Zorn der Bestien – Jallikattu“ einen großen Reiz. In letzter, düsterer Konsequenz sprechen hier vor allem Körper, die sich gegenseitig zertrampeln und zu Klump schlagen wollen. Ein Ur-Schrei wird ausgestoßen. Da gibt es nur noch rohe Gewalt, die man am eigenen Leib zu spüren glaubt. In ihr überlagern sich die angesprochenen Diskurse immer brachialer in einem wilden Genremix. Man muss in der Tat eine Weile überlegen, ob man einen solchen Film überhaupt schon einmal gesehen hat.

    Fazit: Ein Meisterwerk wie ein wildgewordenes Ungetüm. „Zorn der Bestien – Jallikattu“ bietet mit einem Minimum an Handlung eine Vielzahl an Deutungsmöglichkeiten und ist vor allem technisch virtuos inszeniertes, ungeheuer intensives Körperkino.

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