Eine traumwandelnde Tragödie
Von Christoph PetersenAls ich mir im Anschluss an die Pressevorführung auf der Berlinale-Homepage die Inhaltsangabe zu „Music“ durchgelesen habe, musste ich mir eingestehen: Ja, gut die Hälfte davon habe ich beim Schauen schon mitbekommen, der Rest ist aber an mir vorbeigegangen. Dabei bin ich alles andere als ein Angela-Schanelec-Anfänger, habe im Gegenteil sogar alle ihre Filme gesehen, die sich vordergründig durch eine formale und ästhetische Strenge sowie eine oft extrem elliptische Erzählweise auszeichnen. So trägt schon die 4,5-Sterne-Kritik zu ihrem vorherigen Film „Ich war zuhause, aber...“, der bei der Berlinale 2019 mit dem Preis für die Beste Regie ausgezeichnet wurde, den Titel „Das Ende des Verstehens“.
In „Music“ stellt Angela Schanelec sich – und damit zugleich auch ihrem Publikum – nun die Frage, was genau vom Ödipus-Mythos man eigentlich wirklich auf der Leinwand zeigen muss, um zum Kern der Tragödie und vor allem zum Kern ihrer Figuren vorzudringen? Muss man den Zuschauenden noch mal ganz deutlich auf die Nase binden, dass der Mann, den der Protagonist Jon (Aliocha Schneider) da gerade offenbar in Notwehr erschlagen hat, in Wahrheit sein Vater ist? Und die Gefängniswärterin Iro (Agathe Bonitzer), mit der er kurze Zeit später anbandelt und ein Kind bekommt, seine Mutter? Oder ist es nicht viel wichtiger zu zeigen, wie die Figuren ein Bett herrichten oder in der Apotheke eine Medizin für eine Fußerkrankung kaufen?
„Musik“ ist ein tieftragisches Sommermärchen – ist es da wirklich nur ein Zufall, dass Angela Schanelec zwischendurch auch einmal den Bogen zur WM 2006 schlägt?
Natürlich spaltet ein so radikal reduziertes Kino. Die Grenze zwischen Faszination und Frustration ist fließend. Angesiedelt an der griechischen Küste und in den umliegenden Bergen, verzichtet das erste Drittel von „Music“ nahezu komplett auf Worte (und auch später wird kaum mehr als mal ein Satz hier und da gesprochen). Der erste minimal längere Dialog ist dann auch nicht dazu da, mehr Licht in den abstrakt präsentierten Plot zu bringen, stattdessen diskutieren zwei Gefängniswärterinnen die mögliche Lösung eines Kreuzworträtsels. Aber irgendwie passt das, schließlich erfolgt auch die Exposition in traumhaft schönen, aber zugleich eben auch rätselhaft-elliptischen Szenen. „Music“ beginn mit einer langen Einstellung eines nebelverhangenen Berggipfels …
… und auch wenn nach dem ersten Schnitt sofort die pralle griechische Sonne durchknallt, dauert es eine ganze Weile, bis sich einem die vor allem von Auslassungen dominierte Erzählung langsam erschließt: Mit der Hilfe des bereits erwähnten Fußausschlags als Erkennungsmarker werden gleich zwei Jahrzehnte einfach übersprungen – und auch sonst wird hier radikal ausgelotet, was das absolute Minimum ist, um Abläufe und Affekte ans Publikum zu vermitteln. Zeigen einige der ersten Einstellungen eventuell einen Unfall? Zumindest liegen Sachen wahllos herum und es gibt offenbar Verletzte. Einige flüchten. Zwei Polizeiautos trennen sich an einer Weggabel den Berg hinauf. Ist diese lange starre Einstellung womöglich die Schanelec-Variante einer Verfolgungsjagd?! Das Blaulicht eines Krankenwagens. Ein blutverschmiertes Baby wird aus einer Steinhütte getragen; eine Ziege streckt den Kopf hinaus und schaut neugierig hinterher.
Iro (Agathe Bonitzer) weiß nicht, dass der Vater ihrer Tochter zugleich auch ihr eigener Sohn ist.
Mit dem Zusammenkommen von Jon und Iro erhält schließlich auch die titelgebende Musik Einzug in den Film, der Kassettenrekorder in ihrem Wohnzimmer spielt ausschließlich Klassik von Bach bis Pergelosi. Es fühlt sich an, als ob sich damit auch der ganze Rhythmus des Films noch einmal ändert und den barocken Klängen vom Band anpasst. Aber das kann genauso gut auch ein Trugschluss sein, weil man dieselben träumerisch-sonnendurchfluteten Bilder nur durch die Musik plötzlich ganz anders wahrnimmt. Ähnlich verhält es sich mit der Verortung des Films. „Music“ wirkt lange wie aus der Zeit gefallen, selbst wenn Kleidung und Autos auf die 1980er hindeuten.
Aber dann hört man plötzlich den Kommentar eines Sportmoderators – und wenn man sich für Fußball interessiert, dann erkennt man, dass es sich um die letzten zwei Minuten des Spiels Deutschland – Italien bei der Heim-WM 2006 handelt. Was bewirkt es bei einem, dass man nun plötzlich auf die Sekunde genau weiß, wann „Music“ spielt? Aber vielleicht ist es auch nur ein trockener Scherz. Im Gegensatz zu „Ich war zuhause, aber...“ gibt es diesmal quasi keinen offenen Humor. Aber wie Schanelec hier eine der großen griechischen Tragödien mit einer der größten bundesdeutschen Tragödien verbindet, quasi als Dopplung eines in Trauer endenden Sommermärchens, das hat bei näherer Betrachtung schon etwas Urkomisches an sich.
Fazit: Angela Schanelec erschüttert die Idee von Kino weiter in ihren Grundfesten. In „Music“ zieht ein ganzes tragisches Leben an einem vorbei wie in einem Traum, an den man sich nach dem Aufwachen nur noch bruchstückhaft erinnert. Ein sonnig-sinnliches Formalismus-Experiment, das mit seiner radikalen Reduktion entweder maximal inspiriert oder maximal einschläfert.
Wir haben „Music“ im Rahmen der Berlinale 2023 gesehen, wo der Film in den offiziellen Wettbewerb eingeladen wurde.